Stephen King Glas

Stephen King Re-Read: Glas

Der vierte Band in Stephen Kings Saga vom Dunklen Turm bietet einen Abstecher in die Vergangenheit Rolands von Gilead und erzählt, wie er wurde, was er ist. Seit dem ersten Band haben wir immer wieder kleine Einblicke in die Vergangenheit des letzten Revolvermannes bekommen, aber hier widmet sich quasi das ganze Buch seiner Geschichte.

Da mag es fast schon beiläufig scheinen, dass sich in Wizard and Glass (dt. Glas) die Kosmogonie dramatisch verschiebt und alle Werke Kings unter den Fittichen des Turms vereint. Sechs Jahre hat es gedauert, bis der Cliffhanger des vorigen Bandes – The Waste Lands – seine Fortsetzung erfuhr, aber 1997 stand dieser entscheidende Band endlich in den Regalen.

In der zwischen den Romanen liegenden Zeitspanne erschütterte Edward Witten das Gebiet der theoretischen Physik, indem er behauptete, dass unsere Existenz elf Dimensionen enthalte, wobei er sich auf John Schwarz und Michael Greenes früheres Konzept der Stringtheorie stützte. Diese Extradimensionen sind ineinander gefaltet und in einer sehr interessanten Struktur ineinander verflochten. Der Raum, den wir alle bewohnen, wäre damit präsenter als allgemein angenommen und somit ein eigener Körper.

Was die Menschheit als das Universum wahrnimmt, ist in Wirklichkeit nur eine riesige Vier-Membran-Einheit, wobei die vierte Brane die Zeit ist, die in weiteren sieben Branen wirkt. So wie sich dreidimensionale Wesen auf der Erde bewegen und mit anderen dreidimensionalen Subjekten und Objekten interagieren, so könnte sich auch ein dreidimensionaler Raumkörper bewegen und vielleicht mit anderen Branen interagieren und kollidieren, was zu einer massiven Zerstörung führen würde.

King hebt in Wizard and Glass die Lebendigkeit des Multiversums heraus, nämlich tatsächlich als einen riesigen Körper. Er führt dieses Konzept bis zum Ende der Serie fort, wo ein Verbündeter Rolands sagt:

„Diese Realitäten gleichen einem Spiegelkabinett, in dem es jedoch keine exakt gleichen Reflexionen gibt. Das ist ein Bild, auf das ich später zurückkommen möchte, aber das hat noch etwas Zeit. Vorerst möchte ich nur, dass ihr versteht – oder einfach akzeptiert –, dass die Realität organisch ist, dass sie lebt.“

(Band 7: Der dunkle Turm)

Die animistische Darstellung eines Multiversums erlaubt es King nicht nur, sich auf Ängste vor körperlicher Verletzung zu berufen, sondern seine karrierelange Kritik am militärisch-industriellen Komplex fortzusetzen. Diese Kritik, die auf der Verletzung oder Verstümmelung des menschlichen Körpers beruht, findet sich im Arrowhead Project seiner Novelle „Der Nebel“ und in den „Schwachstellen“, die das Multiversum bevölkern und erstmals in Wizard and Glass zu sehen waren.

King beginnt, seine anderen Werke in Wizard and Glass gezielt in den Mythos des Dunklen Turms einzubinden. Reisen zwischen parallelen Universen finden in den ersten drei Romanen zwar ebenfalls statt, die Abstecher führen aber nie in jene Settings hinein, die King vorher beschrieben hatte. Roland und seine Revolverheldenkollegen finden sich auf dem Kansas Turnpike in der Nähe von Topeka wieder. Sie erkennen schnell, dass dieses Kansas nicht ihr eigenes ist, als sie eine Zeitungsschlagzeile lesen, in der das Wüten von „Captain Trips“ beschrieben wird, die Supergrippe, die die Welt von The Stand verwüstet hat. King zieht in diesem Roman eines seiner epischsten und erfolgreichsten Werke in den Mythos des Dunklen Turms hinein und verbindet die Angst vor Krankheit, Tod und Grab mit dem Konzept eines lebendigen Universums. Die Ergebnisse liefern eine interessante Vermischung von Physik und den Konventionen der Gothic Novel, eine der erfolgreichsten Konklusionen aus der gesamten Dunklen-Turm-Serie.

Um das Konzept des Lesers des Multiversums zu ändern, muss King natürlich die Sprache und die Metaphern ändern, die zur Beschreibung des Multiversums verwendet werden. Der Kosmos ist bis dahin als ein Objekt beschrieben worden, typischerweise als ein Gewebe der Raumzeit. Dieses Gewebekonzept geht auf Einsteins Untersuchung der Schwerkraft und der Krümmung von Raum und Zeit aufgrund der Schwerkraft zurück. Auch King verwendet Gewebe und beschreibt ein dünnes Gewebe als „Stellen, wo das Gewebe der Existenz fast völlig abgenutzt ist. Es werden immer mehr, da die Macht des Dunklen Turms nachlässt.“

Rolands Crew reiste durch ein solches Loch im Gewebe der Raumzeit in das Universum von The Stand, eine Öffnung, die auch für die Übertragung von Krankheit, Bösem und Tod steht. Der durch die Brane-Theorie herbeigeführte Wandel im Nachdenken über das Universums vom Objekt zum Subjekt folgt kurz darauf. Roland erklärt:

„Schwachstellen kommen nicht natürlich vor – sie sind Schwären auf der Haut der Existenz und können nur existieren, weil irgendetwas schief geht. In allen Welten.“

Indem er absichtlich von der Materie zu Wunden und Haut, also zu biologischen Beschreibungen übergeht, haucht King seinem Multiversum für den Rest des Epos Leben ein. Krankheiten erscheinen nicht nur auf der Haut des Multiversums, medial begabte Figuren können auch „wie mit einer Injektionsspritze Löcher in den Muskel der Existenz stechen“. King begnügt sich in seiner Aussage nicht damit, dass ein ganzes Universum krank sein kann (wie in The Stand), sondern geht davon aus, dass sich Krankheiten von einem Universum zum anderen ausbreiten können. Damit vergrößert er die Ängste des Schauerromans vor Krankheit und Tod auf den größten gedachten Körper, den Kosmos.

Das alles schwingt sich neben dem eigentlichen Handlungsweg auf, läuft unmerklich nebenher und bildet den Hintergrund. King subsumiert von jeher die westlichen Elemente mit ihrer ganzen Unbeständigkeit, kulturelle Überzeugungen werden ständig neu abgesteckt, und so bekommen wir hier ein postapokalyptisches Westernmotiv, als Roland von seiner Vergangenheit in Gilead erzählt. Dabei ist nicht einmal der Schauplatz, der dieser Erzählung vorangeht, ein willkürlich gewählter Ort. Kansas ist zum einen amerikanisches Kernland und erlaubt King, den Zauberer von Oz einzuweben. Dieser Grenzstaat, Heimat des Sklavenkonflikts als auch religiöser Auseinandersetzungen, betont bereits stark die amerikanischen Werte. Hier kehrt Roland in sich und teilt seine Geschichte, die eindeutig darauf abzielt, diese Werte in einer Welt wiederherzustellen, sie sich ständig verändert und deren moralische Grenzen sich immer weiter nach außen verschieben.

In „Glas“ spielt King mit der Romeo und Julia-Erzählung. Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade dieses Thema in den 90er Jahren wieder auflebte, neben „Der mit dem Wolf tanzt“, „Erbarmungslos“ und „Tombstone“. Wie der Schauerroman auch, untersucht der Western die moralischen Grenzen Amerikas und bietet mehrdeutige Darstellungen von Gut und Böse. Roland erzählt von einer Zeit, wo Grenzen noch existierten, Recht durchgesetzt wurde und die Sonne am Abend im Westen unterging.

Kings Absicht, eine riesige, verwirrende Landschaft zu erschaffen, die mit Tolkien und Sergio Leone gleichzieht, führte ihn dazu, ein Multiversum voller Möglichkeiten zu zeigen. Wenn King in seiner Saga traditionelle Konventionen der Gothic Novel in ein solches Multiversum einführt, sei es das Unheimliche oder die moralische Ungewissheit, greift er dabei auf die theoretische Physik zurück, um beides zu vermischen. Die verschiedenen Welten, gedacht als eigenständige Körper, universelle Variationen der Existenz und sich verschiebender Grenzen, erzeugen ein episches und schreckliches Landschaftsuniversum nach dem anderen. Und im nächsten Band holt er das alles in die erzählerische Jetztzeit.

Pulp Matters

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Hat sich in Studien durch die Weltliteratur arbeiten müssen, fand schließlich mehr Essenz in allem, was mit Krimi und Horror zu tun hat.

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