Nachtkurier

Zu langsam für die Furcht

Zu langsam für den Kellerdämon.Für die Speicherhexe. Den schwarzen Mann. Den Bi-ba-butzemann. Den Bullemann. Buhmann. Kornmann. Wassermann. Ich hatte als Kind immer Angst davor, zu langsam zu sein. „Erst krieg ich dich, dann fress ich dich.“ Eine gruselige Drohung.

Mein Großvater sagte das gern. „Erst krieg ich dich, dann fress ich dich.“ Ich fürchtete mich, wenn er das sagte und lachte und nach mir griff. Meist entkam ich. Er war uralt und müde. Das war mein Glück.

Ich hatte auch Angst davor, auf der Aschenbahn überholt zu werden. Ich erschrak vor dem Schatten, der an mir vorbeizog, er war wie der dunkle Krieger, der mir triumphierend die Lanze in die Seite bohrte und mich sterbend in roter Asche zurückließ. Dummes Zeug? Für mich nicht. Dass ich beim Völkerball auf dem Feld erstarren und tödlich getroffen würde. Als Letzte eine Treppe hinauf zu steigen, ohne zu wissen, ob da nicht doch noch Etwas hinter mir ist, das dort nicht sein darf. Zu stolpern, wenn andere schreiend fliehen. Das alles waren meine unvermeidbaren Vorstellungen. Sie versetzten mich in Panik.

Beim Laufen strengte ich mich richtig an. Die wirklich Schnellste war ich nie, aber deutlich schneller als die Kurzbeinigen und Fetten, und die Genugtuung, dass sie es wären, die gepackt würden, wenn da irgendwas hinter uns her käme, beruhigte mich.

Böse ausgedacht, um zu quälen

Den Plumpsack, der urplötzlich hinter mir stand und mich zwang, ihn zu jagen, um zu verlieren und in seine grausige Rolle zu schlüpfen, hasste ich abgrundtief. Wer hat sich das vor über hundert Jahren so böse ausgedacht, um mich zu quälen?

„Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht herum. Und wer ihn ansieht oder lacht, dem wird der Buckel blau gemacht.“

Von der Bloody Mary hörte ich später, und wie hypnotisiert stand ich vor dem Spiegel und flüsterte mir zu, es doch zu versuchen. Dreimal hintereinander den Namen aussprechen. Dann kommt sie. Hässlich wie die Hölle. Blutrünstig. Böse.

Mein Spiegelbild zeigte eine weiße Frau mit riesigen roten Augen, vielleicht war ich das, sie nickte mir zu und lächelte. Fremde Zähne, schwarze Lippen.

Bloody Mary. Bloody Mary. Noch ein einziges Mal. Sag’s schon.

Sag’s schon! Und dann, dann…Ich habe es nie gesagt. Nie getan. Ich bin vorsichtig. In Hotelzimmern sehe ich in jede Schrankecke, schau unter dem Bett nach, lasse die Tür zum Bad offen stehen, damit niemand in der Nacht die Klinke herunter drücken kann, um mich durch ein Geräusch unbeweglich zu machen. Ich trage dicke Socken, während ich schlafe, weil ich nicht barfuß in Scherben treten darf. Das würde meine Flucht blockieren, irgendjemand könnte das beabsichtigen. Irgendwas. Ich bin erwachsen, aber nicht blöd, ich hüte mich.

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Weißt du, was ich Schlimmes tu‘?

Mir ist bekannt, dass es in Russland einen alten Mann namens Babajka gibt, der vor dem Haus lauert und die Frechen in einen Sack stopft. Er schleppt sie fort, vermutlich frisst er sie. Das ist keine deutlich schlimmere Vorstellung als die, in einem Sack zu ersticken oder darin tot gedrückt zu werden.

Kleiner Schelm bist Du, weißt Du, was ich tu´?
Ich steck Dich in den Hafersack und bind ihn oben zu.
Und wenn Du dann noch schreist: „Ach bitte, mach doch auf!“,
dann bind ich ihn noch fester zu und setz mich obendrauf.

Hat mir immer irritierend gut gefallen, die Melodie. So beschwingt. Das verniedlichte den Gedanken aber nicht, dass meine Großmutter mich platt sitzen könnte, wenn sie es wollte.

Mir fällt der Babadook ein. Neckisch kurz Baba wie auch beim russischen Babajka, was sogar recht sympathisch klingt, charakterlich aber irrelevant ist. Baba ist allumfassend. Er ist meine furchtbare Ahnung. Sie begleitet mich, seitdem ich die Angst vor dem kenne, der nicht sein sollte. DAS nicht sein sollte. Es wartet irgendwo, es ist ungeduldig, und mit seiner Unruhe wächst seine Wut. Wenn es da ist, muss ich schnell sein. Das bin ich aber nicht. Ich bin aus Stein. Tausend Jahre alt. Ich bin aus Eis. Da ist keine Sonne. Ich schmelze nicht.

Nachtkrabb, Hakemann, Boogeyman

Baba kommt zu Besuch und bleibt einfach als ewig währender, mordshungriger Alptraum wohnen. Meine Eltern hätten niemals über ihn gesprochen. Sie haben den Namen des schwarzen Mannes nicht genannt, von dem ich immer gewusst habe, ohne ihn erklärt zu bekommen. Wie heißt er?

Boogey

Nachtkrabb. Nachtgiger. Nachtbock. Vermummter Mann. Böser Mann. Hakemann. Boogeyman. El Coco. Mumus. Fremder. Angst. Schmerz. Tod. Vermutlich.

Ich erinnere mich an all die Märchen. Sie schüchterten mich nicht sonderlich ein. Mir war früh klar, dass Vögel Augen aus hacken, Hexen brennen dürfen und hässliche Mädchen am Ende verlieren. Wirklich furchtbar fand ich einzig den Gedanken, bei jedem Schritt das Gefühl ertragen zu müssen, über spitze Messer zu laufen. Ich hätte keinen Prinzen gewollt.

Über Kinderschreckfiguren, die es angeblich gar nicht gibt, sage ich jetzt etwas Grundsätzliches. Es genügt nicht, mit ihnen zu drohen. Man muss Beweise liefern. Wahre Geschichten erzählen. Wie die vom ungehorsamen Tom, der mal in dem gelben Haus schräg gegenüber gewohnt hat und plötzlich verschwunden war.

Er tauchte auch nie wieder auf. Weil der Wassermann ihn mit einem banalen Geschenk in den Ententeich gelockt hat, um ihn erbärmlich ertrinken zu lassen und seine kleine dumme Seele zu schlucken. Oder weil der Wolf ihn im Tannenwald gepackt, zerrissen, zerfetzt hat. Weil der böse Onkel ihn beim Spielen auf dem Hof hinter dem gelben Haus in verbotener Dämmerung geholt hat, um ihn lebendig zu häuten. Oder weil der Serienmörder aus der Nachbarschaft sein Grab verlassen hat, da es dort unten kein frisches Menschenfleisch gibt.

Man bedenke, dass die Auswahl groß ist. Wichtig bleibt, dass derjenige, dem von Toms verdientem Schicksal berichtet wird, Haus, Teich und Wald kennt. Das ist die halbe Miete, wenn man nicht als Lügner ausgelacht werden will.

Ich selbst kenne so manche Fälle, die tatsächlich passiert sind. Da muss man stets noch kräftig einen drauf geben, noch etwas schlimmer, noch etwas böser…sonst wird man nicht ernst genommen. Die Gefahr wird lächerlich. Und dann ist es kurz vor Mitternacht, und alle lachen und merken nicht, dass es kälter wird. Egal auch. Selbst schuld. Sollen sie sagen, das sei alles Unsinn. Sollen sie ungläubig glotzen. Ich glaube gleichfalls nicht.
Warum auch? Ich weiß. Weiß es.
Halte mir die Ohren zu und laufe, wenn es flüstert:

Bloody Mary. Bloody Mary. Noch ein einziges Mal. Sag’s schon.

Karin Reddemann

Karin Reddemann

Karin Reddemann, Jahrgang 1963, Studium Germanistik/Romanistik, Journalistin und Autorin; von 2015 - 2018 Redakteurin im Phantastikon-Magazin; Mitarbeiterin beim Online-Magazinn Fantasyguide; Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien, Buch Gottes kalte Gabe, Dr. Ronald-Henss-Verlag Saarbrücken (auch e-books).

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