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Eine Mythologie für England: J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe

Es gibt sogar unter den gebildeten Leuten (oder gerade dort) die nie versiegenden Stimmen, die raunen, Tolkien habe sich bei seinem epochemachenden Werk vom zweiten Weltkrieg inspirieren lassen; dann kam John Garth und erklärte in seiner Tolkien-Biographie der Welt, es handle sich um den ersten Weltkrieg, den Tolkien da verarbeite. Tolkien selbst waren diese Verweise schon zu Lebzeiten suspekt – und das zu recht. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Analyse eines Literaturwissenschaftlers mehr über den Analytiker aussagt als über das eigentliche Werk. Das ist das eine. Das andere ist die Tatsache, dass man sich in Mainstream-Kreisen den Erfolg eines Fantasy-Werkes irgendwie erklären muss, um sich ihm bedenkenlos widmen zu können.

Selbstverständlich war Tolkien als Autor von Ideen inspiriert, die aus unserer Welt stammen, aber das ist eine Binsenweisheit, die nirgendwohin führt.

Und damit begrüße ich euch zu einer Sendung, die natürlich zu unseren Buchbesprechungen gehört, aber da es sich um „Der Herr der Ringe“ handelt, natürlich viel mehr ist. Es stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, das beinahe schon zu Tode besprochene Werk Tolkiens noch einmal aufzuwärmen, aber das Phantastikon würde seinen Namen nicht verdienen, wenn es auf dieses Epochemachende Werk aus welchen Gründen auch immer verzichten würde.

In einem Brief an seinen Freund, den englischen Jesuitenpater Robert Murray beschrieb Tolkien „Der Herr der Ringe“ einmal als „ein grundlegend religiöses und katholisches Werk, zunächst unbewusst gestaltet, aber in der Überarbeitungsphase dann bewusst ausgeführt“.

Es gibt viele theologische Themen, die der Erzählung zugrunde liegen: der Kampf des Guten gegen das Böse, der Triumph der Demut über den Stolz, die Wirksamkeit der Gnade, des Todes und der Unsterblichkeit, der Auferstehung, der Erlösung, der Buße, der Selbstaufopferung, des freien Willens, der Gerechtigkeit, der Gemeinschaft, der Autorität und der Heilung.

Auch religiöse Motive, die nicht christlicher Natur sind, erkennt man als starke Einflüsse in Mittelerde. Das Pantheon des Valar und Maiar (größere und kleinere Götter/Engel), das für die Erschaffung und Erhaltung von allem verantwortlich ist, von Himmel (Manwë) und Meer (Ulmo) bis hin zu Träumen (Lórien) und Schicksal (Mandos), suggeriert eine vorchristliche Mythologie, auch wenn Valar und Maiar selbst Schöpfungen einer monotheistischen Einheit sind – Illuvatar oder Eru genannt.

Andere vorchristliche mythologische Bezüge finden sich in den Darstellungen des „wilden Mannes“ (Tom Bombadil), der Istari (gemeinhin als die Zauberer bezeichnet, vielleicht aber mehr Engel als Zauberer), Gestaltwandler (Beorn), untote Geister (Grabunholde), beseelte Nicht-Menschen (Zwerge, Elfen, Hobbits und natürlich Ents). Magie wird in Mittelerde frei verwendet und findet sich nicht nur in den Beschwörungen der Zauberer, sondern auch in den Waffen und Werkzeugen der Krieger und Handwerker, in den Wahrnehmungen und Fähigkeiten der Helden und in der Natur selbst.

Tolkien beharrte wiederholt darauf, dass seine Werke keine Allegorie seien, und obwohl seine Gedanken zu diesem Thema in der Einleitung des Buches erwähnt werden, gab es heftige Spekulationen darüber, ob nicht der Eine Ring eine Allegorie für die Atombombe sei. Allerdings hatte Tolkien den größten Teil des Buches bereits fertiggestellt und das Ende in seiner Gesamtheit geplant, bevor die ersten Atombomben während der Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 der Welt bekannt gemacht wurden. Es gibt jedoch einen starken Trend der Verzweiflung vor der neuen mechanisierten Kriegsführung, die Tolkien selbst in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erlebt hatte. Die Entwicklung einer speziell gezüchteten Ork-Armee und die Zerstörung der Umwelt, um dies zu untermauern, haben natürlich moderne Anleihen. Dennoch äußerte Tolkien offen und nicht gerade selten, dass er Allegorien verabscheue und es wäre unverantwortlich, solche direkten Äußerungen zu diesen Themen leichtfertig abzulehnen, nur weil der Mainstream mit Dingen, die sich nicht direkt auf ihre Toilettenwelt beziehen, Probleme hat.

Tolkien hatte zunächst gar nicht die Absicht, eine Fortsetzung des erfolgreichen Kinderbuches Der Hobbit zu schreiben. Stattdessen skizzierte er die Geschichte von Arda oder die über die Silmarils, bis ein wahres Kompendium über jene Rassen und Geschehnisse vorlag, über die wir in „Der Herr der Ringe“ lesen. Tolkien starb, bevor er das Silmarillion fertigstellen konnte, aber sein Sohn Christopher Tolkien bearbeitete das Werk seines Vaters, füllte Lücken und veröffentlichte es 1977.

Tolkien hegte den tiefen Wunsch, eine Mythologie für England zu schreiben, besonders nach seinen schrecklichen Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs. Auch beeinflusst wurde er von den Auswirkungen der fortschreitenden Industrialisierung, die ihm viel von dem England nahm, das er liebte. Um seine Schriften wirklich verstehen zu können, müssen wir uns bewusst werden, wie Tolkien, der Gelehrte, den Autor Tolkien beeinflusste. Die Schriften über die von ihm geschaffene Mythologie entstanden, als er in Oxford als Philologe tätig war, wo er selbstverständlich mit den nordeuropäischen mittelalterlichen Literaturen zu tun hatte, einschließlich der großen mythischen Werke wie der Hervarar-Saga, der Völsungen-Saga, der einflussreichen Saga des Beowulf sowie anderer altnordischer, alt- und mittelenglischer Texte. Inspiriert wurde er auch von nichtgermanischen Werken wie dem finnischen Epos Kalevala. Ein Mann, der seine erste eigene Sprache im Alter von sieben Jahren erfunden hatte, wurde nun von dem Wunsch getrieben, eine Mythologie für England zu schreiben, beeinflusst durch sein Wissen über diese alten Traditionen.

Die Notwendigkeit eines solchen Mythos war oft das Gesprächsthema bei den Inklings, einer Gruppe anderer Oxford-Wissenschaftler, die als christliche Romantiker bezeichnet wurden und sich wöchentlich trafen, um über isländische Mythen und ihre eigenen unveröffentlichten Manuskripte zu diskutierten. Tolkien stimmte mit C. S. Lewis, einem anderen Mitglied der Gruppe, überein, dass, wenn es keine adäquaten Mythen für England gäbe, sie ihre eigenen schreiben müssten. Tolkiens Werk wurde allgemein in diesem Licht interpretiert.

Von seinen Verlegern überredet, begann er im Dezember 1937 mit einem neuen Hobbit. Nach mehreren Fehlstarts kristallisierte sich bald die Geschichte des Einen Ringes heraus, und das Buch mutierte von einer Fortsetzung des Hobbit zu einer thematischen Fortsetzung des unveröffentlichten Silmarillion. Die Idee des ersten Kapitels (Das lang erwartete Fest) schrieb er bereits formvollendet nieder, obwohl die Gründe für Bilbos Verschwinden und die Bedeutung des Ringes nicht vor 1938 eingearbeitet wurden. Ursprünglich sollte eine weitere Geschichte entstehen, in der Bilbo seinen ganzen Schatz aufgebraucht hatte und deshalb nach einem weiteren Abenteuer suchte; Tolkien erinnerte sich jedoch an den Ring und die Kräfte, die er hatte, und beschloss, stattdessen darüber zu schreiben. Er begann damit, Bilbo als Hauptfigur zu konzipieren, bemerkte aber schnell, dass die Geschichte zu ernst wurde und für den lustigen Hobbit nicht angemessen war. Bei der Suche nach einem alternativen Ringträger erfand er schließlich Frodo.

Die Geschichte kam aufgrund Tolkiens Perfektionismus nur langsam voran und wurde oft durch seine akademischen Aufgaben unterbrochen. Er scheint das Buch während des größten Teils des Jahres 1943 aufgegeben und erst im April 1944 wieder aufgenommen zu haben. Seinen Verlegern zeigte er erst 1947 eine Kopie des Manuskripts, und erst im darauffolgenden Jahr wurde es abgeschlossen, die Überarbeitung dauerte dann aber bis 1949. Aber auch drei Jahre später war das Buch noch unveröffentlicht.

Aufgrund des Papiermangels in der Nachkriegszeit, aber auch um den Preis des ersten Bandes niedrig zu halten, wurde das Buch in drei Bände unterteilt. Verzögerungen bei der Erstellung von Anhängen und Karten führten dazu, dass diese später als ursprünglich erhofft veröffentlicht wurden – am 29. Juli und 11. November 1954 und am 20. Oktober 1955 erschien es im Vereinigten Königreich.

Da die dreibändige Bindung so weit verbreitet war, wird das Werk meist als „Herr der Ringe“-Trilogie bezeichnet, obwohl es sich – technisch gesehen – nur um einen einzigen Roman handelt.

Der enorme Publikumserfolg von Tolkiens epischer Saga hat die Nachfrage nach Fantasyliteratur stark beeinflusst. In den 60er Jahren boomte das Genre und viele Meilensteine wurden in dieser Zeit veröffentlicht (etwa Erdsee von Ursula LeGuin, die Thomas Covenant-Romane von Stephen R. Donaldson und die Gormenghast-Bücher von Mervyn Peake; Der Wurm Ourobouros von E. R. Eddison wurde wiederentdeckt). Auch die Rollenspielindustrie, die in den 1970er Jahren mit Dungeons & Dragons populär wurde, profitierte davon, und viele Kreaturen, die in Tolkiens Büchern zu finden waren, wurden darin übernommen.

Der Begriff „Tolkienesque“ wurde im Genre verwendet, um auf die oft kopierte und missbrauchte Handlung des Herr der Ringe zu verweisen: eine Gruppe von Abenteurern macht sich auf, um die Welt vor den Armee eines dunklen Herrschers zu retten. Shannara ist unter den vielen Plagiaten wohl am bekanntesten.

Was bleibt zu sagen, sieht man sich an, was bereits alles über Tolkien und sein Werk publiziert wurde? Man wird kaum mehr einen Bereich finden, der nicht bereits kleinteilig auseinander genommen worden wäre. Die Faszination bleibt, aber es ist keineswegs mehr so, dass kein Weg an Tolkien vorbei führt, wie das jahrzehntelang der Fall zu sein schien. Neue Strömungen und starke Autoren haben bereits gezeigt, dass es ein Leben nach Der Herr der Ringe gibt.

MEP

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Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.

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