Carnivale

Carnivale

Es gibt wohl kaum eine Serie, die den Begriff der „Weird Fiction“ neben Twin Peaks jemals so verkörperte wie Daniel Knaufs Carnivale, die im Jahre 2003 wohl noch etwas zu ambitioniert für die Serienlandschaft war, um sich durchsetzen zu können. Magie, Drama, Science-Fiction und Fantasy wurden in diesem Juwel zu einem einzigartigen Mix verschmolzen, der bis heute in keiner ähnlichen Weise mehr erblickt wurde. Würde man die Serie heute herausbringen, würde dieses einzigartige Juwel des Geschichtenerzählens wohl spielend der Hit des Jahres werden.

Carnivale – das ist die uralte Geschichte von Gut gegen Böse, die vor dem Hintergrund der Dust Bowl (Great Planes) während der Großen Depression spielt. Die Erzählung folgt einem reisenden Zirkus, der von einem geheimnisvollen, unsichtbaren Management geleitet wird und wie dieser auf einen jungen Mann namens Ben Hawkins (Nick Stahl) trifft, der ungewöhnliche Heilkräfte besitzt, die ihm einen hohen Preis abverlangen. Bald beginnt er Visionen eines apokalyptischen Schicksals für den Planeten zu haben.

Parallel zu seiner läuft die Geschichte um Bruder Justin Crowe (Clancy Brown), einem methodistischen Prediger, der ähnliche Kräfte entwickelt und versucht, sie zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen, aber langsam immer mehr vom Pfad der Gerechtigkeit abkommt. Um die Spielart der Serie zusammenzufassen: Stellen Sie sich vor, John Steinbeck würde mit Stephen King in einem heruntergekommenen Diner in der Wüste abhängen, in dem es billigen Kaffee gibt und überall vergilbte Zeitungen herumliegen, sie spinnen sich gemeinsam ein paar Geschichten zusammen, und am Ende nimmt David Lynch ein paar Änderungen vor. Das trifft es ziemlich genau.

Das war keine Serie, die mit dem Nervenkitzel spielte oder in schnellen Actionszenen schwelgte. Mit einem gerüchteweise veranschlagten Preis von 4 Millionen Dollar pro Episode war Carnivale ein üppiges und langsam vorwärtsschreitendes Drama, das den Fokus auf seine Figuren und den Verschwörungsmythos innerhalb einiger verlockender Handlungsstränge legte. Die farbenfrohe Besetzung des Zirkus selbst (viele von ihnen gehören zu den faszinierendsten Charakteren des Fernsehens der damaligen Zeit) verband mit ihren individuellen Geschichten spielend die weiter gefassten Themen und Legenden. Selbst in den ruhigen Momenten wird hier erzähltechnisch keine Zeit verschwendet.

Während das Tempo der Serie für einige Zuschauer wohl zu langsam war, kann man jedoch eines völlig unzweifelhaft behaupten: Carnivale war zu dieser Zeit besser als alles andere im Fernsehen, wenn es darum ging, ein überwältigendes Gefühl der Furcht zu erzeugen. Hier gibt es eine Welt des echten Leids, wenn der Zirkus mitten in der Wüste, wo es nur wenige Kunden gibt, versucht, sich über Wasser zu halten und die zunehmende Verzweiflung den Bildschirm ausfüllt, während die Geschichte unaufhaltsam voranschreitet. Auch ohne Bens erschreckende Visionen einer pilzförmigen Wolke, die die Welt verzehren wird, ist das Gefühl der Hoffnungslosigkeit allgegenwärtig. Niemand kann dem Staub entkommen.

Indem Knauf den historischen Kontext der Zeit mit Bildern und dem Mythos aus biblischen, freimaurerischen und den Erzählungen wandernder Geschichtenerzähler kombiniert, reichert er die Genre-Elemente mit den zeitgenössischen Kämpfen der Menschen dieses Jahrzehnts an. Magie kann wunderbar sein, aber in dieser Welt ist sie nur ein weiteres Element des Schmerzes, und sie wird wenig dazu beitragen, die Hybris der Menschheit oder ihre Vorliebe für die Dunkelheit abzuwehren. Die Volksmärchen der Reisenden und das Alte Testament spiegeln die großen Veränderungen der Epoche wider, von der Massenabwanderung in den amerikanischen Osten bis zum Aufstieg des rechten Flügels und der zunehmenden Macht kontroverser religiöser Persönlichkeiten wie Pater Coughlin.

Carnivale macht es dem Zuschauer nicht immer einfach; die Serie ist voller Menschen, die darum kämpfen durchzukommen, es gibt Momente schockierender Gewalt (auch gegen Frauen), und sie verlangt von ihrem Publikum beinahe unendliche Geduld (und endet auch mit einem massiven Cliffhanger, der nie aufgelöst wurde). Manchmal ist die Handlung in ihrem surrealen Styling schwindelerregend und ruft das Gefühl hervor, Zukunft würde hier als ein schrecklicher Alptraum prophezeit … was ja auch stimmt. In der zweiten Staffel nimmt die Erzählgeschwindigkeit zu (die Annullierung der Serie lag in der Luft und Knauf wusste es), aber nur wenige Serien belohnen das Publikum so wie Carnivale, vor allem beim zweiten Sichten. Man sieht, wie jedes einzelne Detail ineinander übergeht, und plötzlich wird einem klar, wie gut diese Serie aufgebaut ist.

Carnivale ist eine präapokalyptische, mystische Fabel, die Erinnerungen an das bereits erwähnte Twin Peaks über den Pulp-Noir der 1950er Jahre mit einem Schuss Akte X wachruft. Ein aufwendiges Stück, dass sich nicht scheut, die als makellos dargestellten historischen Details abzuschmirgeln und dreckig erscheinen zu lassen; ein beunruhigender Abstieg in die Trostlosigkeit der Menschheit, betrachtet durch die Linse des Phantastischen.

MEP

MEP

Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.

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