Horror-Kolumne

Dissonanz und Horror

Humorvoll, das ist der einzig ehrliche Weg, um eine traurige Geschichte zu erzählen.“

―Jonathan Safran Foer

Je länger und aufmerksamer wir auf eine lustige Geschichte blicken, desto trauriger stimmt sie uns.“

―Nikolai Gogol

Vor einigen Jahren besuchte ich in Toronto einige Lesungen. Eine der interessantesten Phänomene, die ich dort beobachten konnte, war, dass immer dann, wenn jemand, der zu lesen begann, vorher erklärte, dass es sich dabei um eine Horrorgeschichte handelt, sich der Effekt unmittelbar zeigte: die Zuhörer gingen in die Abwehrhaltung, sie verschränkten ihre Arme, lehnten sich auf ihren Stühlen zurück, begannen die Stirn zu runzeln. Nun waren viele der Zuhörer selbst Autoren von Horrorgeschichten, also war das kein Zeichen von gänzlichem Missfallen gegenüber diesem Genre, wie man vielleicht vermuten könnte. Die Hörer schützten sich selbst. Ihre unmittelbare, einheitliche Reaktion war, sich emotional von der Geschichte zu distanzieren. Niemand von ihnen wollte sich fürchten.

Aber natürlich taten sie das. Deshalb waren sie schließlich hier.

Leser, was immer sie behaupten, sträuben sich dagegen, beeinflusst zu werden. Das habe ich gelernt, und das ist es, was ich besonders interessant an Safran Foers Zitat zu Beginn dieses Artikels fand: „Humorvoll, das ist der einzig ehrliche Weg, um eine traurige Geschichte zu erzählen.“ Es gibt eine große Gemeinsamkeit zwischen Horror und Tragödie. Beides sind emotionale Genres. Sie gewähren Zugang zu einem Gefühl, das Menschen in ihrem Alltag ganz bewusst zu vermeiden suchen. Als Ergebnis habe ich einen Trick entwickelt, wie ich eine gute Horrorgeschichte erzählen kann, indem ich dem Publikum glauben mache, es würde gar keine Horrorgeschichte lesen.

Ein Weg, um das Publikum auszutricksen, liegt im Gebrauch der Dissonanz – das bedeutet, dem Leser die Geschichte so zu erzählen, als wäre sie an sich gar nicht schrecklich. Wie Jonathan Foer sagt: Erzähle eine traurige Geschichte so als wäre es keine traurige Geschichte.“

Lassen Sie mich ein Beispiel geben.

Robert Shearmans „Granny’s Grinning“ ist eine der gruseligsten Geschichten, die ich kenne. Sie handelt von einem Mädchen, das zu Weihnachten einen Anzug erhält, der es, solange es ihn trägt, in einen echten Zombie verwandelt. Diese Geschichte benutzt die lässige Umgangssprache eines rotzigen jungen Mädchens. Insgesamt ist die Sprache einfach gehalten, aber es gibt einige sehr lange Sätze, die die Geschwindigkeit der Geschichte sehr hoch halten. Die Passagen sind – wie fast immer in Shearmans Werk – unterlegt mit vielen Witzen. Der Anfang mit seinem schnellen Hin und Her, den eingebetteten Dialogen, sprudelt geradezu über vor Sarahs Verachtung für ihren kleinen Bruder, ihrer Verachtung für wirklich alles, am meisten aber für Zombies.

Was beabsichtigt dieser Beginn? Er entwaffnet – und er tut das, indem er die Stimme eines alltäglichen Charakters benutzt, ein Symbol, das fast auf jedes junge Mädchen anwendbar ist; einen einfachen, kumpelhaften Stil, funktionierende Witze; lange Sätze, in die man sich regelrecht eingelullt fühlt. Shearman neigt dazu, ausufernde Sätze zu schreiben, und ein Effekt davon ist, dass man die Aufmerksamkeit nicht auf jede emotionale Regung legt und nicht bemerkt, wie er das Drama maskiert. Das ist eine leichthändige Trickserei, weil man sehr schnell durch die Erzählung katapultiert wird, und man gar nicht genau weiß, was eigentlich geschieht, bis man über etwas stolpert, das absichtlich den Rhythmus bricht.

„Granny’s Grinning“ spielt ein vorsätzliches Spiel mit dem Leser. Was eine Geschichte über Zombies zu sein verspricht, verschiebt sich zu einem einfachen Familiendrama, in dem die Familie das Haus tauglich für ihre Großmutter machen muss, die, seit kurzem verwitwet, schließlich ihre finanzielle Zukunft in Händen hält. Der Leser wird abgelenkt – vom gewöhnlichen Ton als auch von der Alltäglichkeit der Geschichte selbst – bis Sarah das Zombiekostüm anzieht, dass sie im ersten Absatz so sehr verschmäht. Weil Sarah so herablassend ist, und wegen des spaßigen Tons der Erzählung, nimmt der Leser Sarahs Verachtung als selbstverständlich an, wir werden eingelullt von der Vorstellung, das Zombiekostüm sei völlig harmlos.

Die Geschichte zeigt ihr schreckliches und äußerst teuflisches Gesicht in dem Moment, wo ihr Gimmick – das Zombiekostüm, das einen in einen wirklichen Zombie verwandelt – kein Spaß mehr ist, sondern sich ins Gegenteil kehrt. Als Leser haben wir uns bis jetzt nicht gescheut, über Sarah zu lachen, die mit ihrem plumpen, sich zersetzenden Körper am Esstisch kämpft, aber um so weiter die Geschichte fortschreitet, werden wir mit dem Konzept des Horror konfrontiert, dass ein kleines Mädchen sich in eine Leiche verwandelt, ein Konzept, dass Shearman auf die Spitze treibt, wenn Sarah, zombifiziert von diesem speziellen Anzug, zu ihrer einsamen Großmutter geschickt wird, die ihren verstorbenen Ehemann verzweifelt vermisst…

Was in dieser Geschichte wirkt ist die Dissonanz zwischen dem komischen Ton, der ein schreckliches Element als Spaß präsentiert, und der langsamen Erkenntnis, dass die Dinge nicht so witzig sind, wie sie scheinen.

Und das bringt uns zu Witzen – eine andere kraftvolle Form der Dissonanz. Witze sagen uns alles über Gewalt, aber sie besänftigen die Gewalt: entweder ist die enthaltene Gewalt nicht real, oder die Gewalt richtet sich gegen jene, die sie verdient haben. Als solche akzeptieren wir sie. Und Horrorgeschichten arbeite in vielerlei Hinsicht mit der gleichen Logik wie es Witze tun. Sie erfordern eine bestimmte Struktur, und die Bereitschaft, die Handlung in einer bestimmten Art und Weise zu interpretieren, so dass die emotionale Pointe greift, wenn alle Teile perfekt ineinander laufen. Das ist die Kernaussage des Gogol-Zitats: „Je länger und aufmerksamer wir auf eine lustige Geschichte blicken, desto trauriger stimmt sie uns.“

Witze arbeiten exakt nach diesem Muster. Sie erfordern Geschwindigkeit. Sie benötigen eine Einleitung, um den Ton festzulegen. Nehmen wir den klassischen „Baby in einem Mixer“-Witz. Wie viele Babys passen in einen Mixer? Hängt davon ab, wie stark der Mixer ist! Für die Zeit des Witzes sind wir bereit, in unserem Kopf zwei konkurrierende Gedanken zu halten: erstens, dass es ein gewisses Level an Realität gegenüber dem gibt, was gesagt wird, dass der Witz in der uns bekannten Welt spielt, sagen wir, dass es darin eine gewisse Logik gibt, die wir verstehen können (wenn wir wirklich ein Baby in einen Mixer stecken und „Start“ drücken, wird etwas sehr schlimmes mit dem Baby geschehen); zweitens akzeptieren wir ein gewisses Level des Nichtrealen gegenüber dem Gesagten, dass es sich hierbei nicht um ein reales Ereignis handelt, und dass keine Babys tatsächlich im Mixer zerhackt wurden. Der Humor entsteht aus dem Aufeinandertreffen dieser beiden Gedankenmuster: die Gewalt flimmert innerhalb und außerhalb der Vorstellung.

Aber sagen wir, jemand erzählt uns eine lange Anekdote darüber, ein Baby in einen Mixer zu stecken; sagen wir, jemand beschreibt das Baby, erzählt uns von seinen Eltern, und macht uns damit klar, dass er das Baby kennt, ist ihm begegnet, dieses Baby ist lebendig, atmet, ein süßes kleines Wesen, das jemand in einen Mixer steckt… dann wird daraus eine ganz andere Geschichte, oder nicht?

Wenn wir länger und sorgfältiger über diesen Witz nachdenken, den Rahmen des Witzes entfernen – der Geschwindigkeit oder Kürze und eine Einstimmung auf den Ton benötigt – was haben wir dann vor uns? Wir haben eine Horrorgeschichte.

Es ist verblüffend, wie wenig es braucht, um den Leser aus seiner Komfortzone zu bewegen, und das Kuriose an der Dissonanz ist, wie ungeheuer kraftvoll sie ist, wenn üble Sachen in entwaffnenden, fröhlichen Geschichten geschehen. Chris Morris hat in seiner enorm verstörenden Sketch-Show Jam einen wunderbar blutigen Sketch, in dem ein Mann beabsichtigt Selbstmord zu begehen, in dem er sich aus einem Gebäude stürzt. Aber anstatt sich einmal aus dem zwanzigsten Stock zu werfen, entscheidet er sich dafür, sich zwanzigmal aus dem ersten Stock zu werfen.

Der Sketch ist beides, schrecklich lustig und schrecklich beängstigend, weil Chris Morris – in diesem und in vielen seiner anderen Sketche! – so effizient etwas präsentiert, das ein Witz sein könnte, und dann verlangsamt er die Reaktionszeit wesentlich, und zwingt so den Zuschauer, länger und länger mit diesem Unbehagen zurechtzukommen. Selbstmord ist unangenehm; das Bild von jemanden, der aus einem Gebäude springt, ist natürlicherweise verstörend, aber es ist auch ein Bild, das wir kennen, und so relativ leicht beiseite schieben können. Aber Morris lässt den Zuschauer nicht vom Haken. Der Zuschauer beginnt zu lachen, aber das Lachen bleibt möglicherweise im Halse stecken.

Eine Sendung wie Jam demonstriert, in welchem Maße Verzerrungen als Werkzeug für Dissonanzen taugen. Diese Art des Zusammenpralls unterschiedlicher Weltsichten, diese Art der Dissonanz entsteht nicht nur durch die Taktik, ein nichtrealistisches Element in eine an sich realistische Welt einzuführen. Sie kann auch erreicht werden, indem die Logik des Erzählflusses selbst unterbrochen wird; die Erzählung zu verlangsamen, wo sie schnell voranschreiten sollte; sie zu beschleunigen, wo sie eher verweilen sollte; ein Element als lustig zu präsentieren, das eigentlich entsetzlich ist, oder umgekehrt. Gewalttätigkeit ohne Schnörkel zu beschreiben, ist einfach, aber sie wird selten bewundert werden oder den Leser beeinflussen. Wenn sie allerdings aus dem Hinterhalt kommt, wird eine Szene lebendig. Denken wir, zum Beispiel, daran, wie Tarantino den Song  “Stuck in the Middle with You”einsetzt, um die brutale Folterszene in Reservoir Dogs zu untermalen, in der Mr. Blonde Officer Nashs Ohr mit einem Rasiermesser abschneidet.

Eine Geschichte wirkt auf die gleiche Weise wie ein Witz funktioniert, oder wie ein Zaubertrick: durch Irreführung und Geschicklichkeit der Hand, den Leser da einzulullen, wo er aufmerksam ist, durch eine Regeländerung, wenn er sich sicher fühlt, und dadurch, die Erwartungshaltung gegen den Strich zu bürsten. Tonale Dissonanz, der Unterschied zwischen der Haltung des Erzählers und der Haltung des Leser gegenüber den sich entfaltenden Ereignissen, ist extrem leistungsfähig. Es existiert nur eine sehr dünne Linie zwischen Schock und Erlösung, zwischen traurig und lustig – und ein guter Schriftsteller weiß, wie er auf der Klinge zu tanzen hat, um den größtmöglichen emotionalen Einschlag vorzubereiten.

Helen Marshall

Helen Marshall

Helen Marshall ist eine von der Kritik gefeierte Autorin, Herausgeberin und Mediävistin. Nach ihrer Promotion am renommierten Centre for Medieval Studies der Universität Toronto verbrachte sie zwei Jahre mit einem Postdoc-Stipendium an der Universität Oxford, wo sie sich mit der Literatur zur Zeit des Schwarzen Todes beschäftigte. Sie ist Senior Lecturer für kreatives Schreiben an der University of Queensland.

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