Höllenjazz in New Orleans

Ray Celestin: Höllenjazz in New Orleans

Höllenjazz

New Orleans, Mai 1919. Ein mysteriöser Mörder geht um, den man den Axeman nennt. Ähnlich wie im Fall Jack the Ripper gibt es einen Spottbrief, den er an die ansässige Zeitung schickt (beim Ripper war es die Polizei selbst, an die die Briefe adressiert waren), und ähnlich wie Jack the Ripper gab es den Axeman wirklich, auch er wurde nie gefasst, die Morde hörten einfach auf.

Bei seinen brutal verstümmelten Opfern hinterlässt er stets eine Tarotkarte.

Die Ermittlungen werden von drei unterschiedlichen Seiten aufgezogen. Da sind Detective Lieutenant Michael Talbot, der ehemalige Polizist und Mafioso Luca D’Andrea, der frisch aus dem Gefängnis entlassen wurde, und Ida Davis, eine Sekretärin der örtlichen Zweigstelle der Detektei Pinkerton, die unabhängig voneinander die Morde untersuchen.

Ray Celestins Debütroman führt uns zurück in die Zeit, in ein New Orleans nach dem ersten Weltkrieg. Die Erzählung wechselt zwischen den drei Hauptfiguren, die alle einen anderen Ansatz haben, und sie nimmt uns mit, um eine Reihe historischer Verbrechen zu untersuchen. Dabei sehen wir interessanterweise nicht nur drei Möglichkeiten, sich einem Verbrechen zu nähern, wir erleben auch die Stadt aus drei unterschiedlichen Perspektiven, die sich im Laufe der letzten hundert Jahren kaum verändert hat, glaubt man den Stimmen, die sich damit auskennen. Tatsächlich gilt New Orleans als die große Ausnahme unter den Städten dieser Welt, eine regelrechte Besonderheit in jeder Hinsicht, und das sickert aus nahezu jeder Zeile des Romans hervor.

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Michael Talbot ist Ire der zweiten Generation, ein Mitglied der Polizei, und er hat es schwer mit seinen Kollegen. Vor einigen Jahren musste er gegen seinen damaligen Chef Luca D’Andrea aussagen, was diesen für fünf Jahre ins berüchtigte Gefängnis “Angola” brachte.

D’Andrea selbst ist ein italienischer Mafioso, der sich innerhalb der Polizei hochgearbeitet hatte. Nach fünf Jahren wieder auf freiem Fuß, ist sein einziger Wunsch nun, in seine Heimat Sizilien zurückzukehren und seine Tage dort zu beenden, wo er hingehört. Doch Carlos Matranga, der Kopf der ansässigen Mafia, hat noch eine letzte Aufgabe für ihn, bevor er ihn gehen lassen wird: die Identität des Axeman zu ermitteln, der bisher ausschließlich italienische Lebensmittelhändler und ihre Familien getötet hat.

Die dritte Erzählung folgt der jungen Ida Davis, die als Sekretärin im örtliche Büro der Pinkertons arbeitet, ein Kompromiss, den sie einging, um ihren Fuß auf die erste Sprosse der Karriereleiter zu setzen, die sie letztendlich zu einer eigenständigen Detektivin machen wird. Ihr Boss, ein fauler Cajun, könnte durchaus in der Hand der Mafia liegen, die man “Die Familie” oder “Die schwarze Hand” nennt. Also muss sie ihre Ermittlungen heimlich und mithilfe ihres jungen Musikerfreundes Louis “Little Lewis” Armstrong durchführen.

In Celestins Wahl der Protagonisten steckt viel von der Persönlichkeit der Stadt selbst: New Orleans war schon immer so etwas wie ein kultureller Schmelztiegel, und die Tatsache, dass nur einer der drei Protagonisten ein echter Orleanese ist, spiegelt dies wider. Celestin schenkt der Stadt große Aufmerksamkeit, so dass sie eine wichtige Rolle in der Erzählung übernimmt, und bemüht sich sehr darum, dass der Leser die Hitze spüren, die Gerüche riechen und die Geräusche hören kann, die diese Stadt so einzigartig machen. Mehr als jeder andere Autor seit James Lee Burke macht Celestin diese Stadt lebendig und versetzt den Leser mitten hinein.

Diese Schmelztiegel-Kultur strotzt vor religiösen, rassischen und politischen Spannungen, und es ist diese Spannung, die den gebrochenen Erzählstil der Handlung bestimmt. Talbot ermittelt, weil es seine Aufgabe ist, dies zu tun; D’Andrea ermittelt wegen der italienischen Verbindung und weil die Schwarze Hand dabei beobachtet werden will, wie sie die Dinge selbst in die Hand nimmt; Ida hat ihrem Chef etwas zu beweisen, möchte aber auch sicherstellen, dass Gerechtigkeit geübt wird und die Verbrechen nicht, wie die in der ganzen Stadt vorherrschende Theorie besagt, bequem dem nächsten Schwarzen in die Schuhe geschoben werden.

Das Rätsel selbst ist ein wenig prosaisch und soll nicht unbedingt vom Leser gelöst werden können. Was “Höllenjazz” lesenswert macht, sind die Figuren, der Schauplatz und die clevere Konstruktion, die dafür sorgt, dass diese drei Ermittlungs-Stränge während der gesamten Romandauer parallel laufen, selten dieselben Hinweise aufgreifen und niemals Informationen von einem zum anderen streuen. Am Ende des Romans ist es interessant zu sehen, wie jeder der Ermittler zum richtigen Schluss kommt, aber die Schönheit des Romans liegt in der Tatsache, dass am Ende die einzige Person, die die ganze Geschichte kennt, der Leser ist, der die Informationen aus den drei verschiedenen Abenteuern zusammenfügt.

Als Liebhaber einer solchen Mischung aus historischen Fakten und Fiktion bin ich etwas spät auf dieses Buch aufmerksam geworden, es erschien nämlich bereits 2018. Die Tatsache, dass New Orleans einer meiner Lieblingsorte auf dem Planeten ist – und die Tatsache, dass Celesetin diesen Ort so hervorragend dargestellt hat, ist schon allein ein Grund, das Buch all jenen zu empfehlen, die etwas mit dem frühen Jazz und dem Schauplatz anzufangen wissen. Eine der interessantesten Figuren ist natürlich Louis Armstrong, dem wir an einem Punkt in seinem Leben begegnen, wo er noch nicht die Sensation des ganzen Südens der USA ist.

In diesem Debüt geht es also vor allem um Charakterzeichnung und die Lebendigkeit eines Ortes. Es ist die punktgenaue Wiedergabe eines einzigartigen Zeitpunkts und eines einzigartigen Ortes auf der Erde, und der Roman hat genug Spannung, um sicherzustellen, dass der Leser während der ganzen Zeit beschäftigt bleibt. Celestin zeichnet sich durch Detailgenauigkeit aus – sowohl in Bezug auf die Geschichte als auch auf den Schauplatz – aber niemals um den Preis, die Geschichte zu vernachlässigen. “Höllenjazz in New Orleans” ist ein ausgezeichneter Erstling, die perfekte Einführung einer hochtalentierten neuen Stimme, die mittlerweile bereits zwei neue Romane vorgelegt hat. Der letzte – “Gangsterswing in New York” – erschien 2020, und da die ganze Reihe mit City Blues Quartett betitelt ist, wird es natürlich noch einen Roman aus dem Topf Stadt – Musik – Verbrechen geben. Und es bleibt vor allem historisch.

Erschienen sind die Bände bei Piper.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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