Urban Fantasy

Urban Fantasy – Teil 2: Geburt eines Genres

Im vorigen Beitrag sprachen wir über die Definition der urbanen Fantasy und ihren Ursprüngen. Nun wollen wir mal sehen, wie dieses Genre entstanden ist und warum es so populär wurde.

Charles de Lint, der Pionier der urbanen Fantasy

Das allererste Werk der Urban Fantasy war wahrscheinlich der 1984 erschienene Roman „Moonheart: A Romance“ von Charles de Lint. Den Begriff Urban Fantasy gab es damals allerdings noch nicht. Urban Fantasy wurde 1997 von John Clute und John Grant in ihrer Encyclopedia of Fantasy als Texte definiert,

„in denen die phantastische und die herkömmliche Welt interagieren, sich kreuzen und zu einer Geschichte verschränken, die sich signifikant um eine reale Stadt dreht.“

Ironischerweise war die Serie, die das Genre begründete, nicht in einer realen Stadt angesiedelt, sondern in einer imaginären. Newford, das von Charles de Lint erfunden wurde, stellt eine typisch amerikanische Stadt dar, mit seinen wohlhabenden Wohngebieten und Slums, seinen Stränden und Brachflächen und natürlich seinem ausgedehnten Netz von unterirdischen Tunneln. Die Newford-Serie begann mit der Kurzgeschichte „Uncle Dobbin’s Parrot Fair“, die 1987 zum ersten Mal in Isaac Asimovs Science Fiction Magazin erschien. 1993 wurden mehrere Kurzgeschichten von Charles de Lint, alle in Newford angesiedelt, von Terri Windling zusammengestellt und unter dem Titel „Dreams Underfoot“ veröffentlicht.

„Dreams Underfoot“ ist eine denkwürdige Lektüre. Wir treffen auf farbenfrohe Charaktere, lernen sie lieben und erforschen die Geheimnisse Newfords und ihrer Gesellschaft. Manche Geschichten grenzen an den Magischen Realismus oder den Surrealismus, zum Beispiel „Freewheeling“, wo ein Straßenkind Fahrräder klaut, um ihnen die Freiheit zu schenken. Für den Protagonisten haben selbst unbelebte Objekte eine Seele, einen eigenen Geist und verdienen es daher, frei zu sein. Ist er wahnsinnig, oder nimmt er etwas Reales wahr, eine Magie, die in weltlichen Objekten versteckt ist? Wir werden es nie erfahren. Während des gesamten Buches verflechten sich Realität, Mythos und Magie so eng miteinander, dass es manchmal unmöglich ist zu sagen, was real und was eingebildet ist. Ob die Magie echt ist oder nicht, ändert aber nichts an der Bedeutung der Geschichten. Wichtig ist, woran die Menschen glauben. Das ist die Theorie der einvernehmlichen Realität: Dinge existieren, weil wir wollen, dass sie existieren.

„Dreams Underfoot“ wurde mit Werken literarischer Fantasy wie „Little, Big“ (1981) von John Crowley und Mark Helprins „Wintermärchen“ (1983) verglichen. In Übersetzung liegt kaum etwas von de Lint vor und schon gar nicht seine wichtigsten Werke.

Sex, das Übersinnliche und Rock and Roll!

Einige würden sagen, dass der erste urbane Fantasy-Roman „War for the Oaks“ (1987) von Emma Bull war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem zustimme, aber lasst uns über dieses Buch reden. Es erzählt die Geschichte von Eddi McCandry, einer jungen Sängerin, die in Minneapolis lebt. Sie hat einen schlechten Tag, oder besser gesagt, eine schlechte Nacht. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und verließ seine Band, und später begegnet sie einem finsteren Mann und einem riesigen Hund. Die beiden Geschöpfe sind ein und dasselbe: ein Phouka, ein Feenwesen, das Eddi zum Bauernopfer im jahrhundertealten Krieg zwischen den Höfen von Seelies und Unseelies auserkoren hat.

„War for the Oaks“ ist nicht der passendste Titel für diesen Roman, da der Krieg der Feenhöfe nicht im Mittelpunkt der Geschichte steht. Rockmusik schon. Ein guter Titel für dieses Buch wäre „Eddi and the Fey „(der Name von Eddis Band) oder noch besser „Sex & Fey & Rock & Roll!“ Emma Bull war Musikerin; sie spielte Gitarre und sang bei den Flash Girls, einem Goth-Folk-Duo, und war Mitglied von Cats Laughing, einer psychedelischen Folk-Jazz-Band. Zweifellos hat ihre Leidenschaft für die Musik den Krieg um die Eichen inspiriert.

Dieser Roman würde eher als paranormale Romanze denn als urbane Fantasy durchgehen. Die Handlung dreht sich um Eddi und ihr Liebesleben (und ihr Sexualleben, obwohl es keine expliziten Sexszenen gibt). Es gibt sogar eine Dreiecksbeziehung zwischen Eddi und zwei übernatürlichen Wesen, ein Erzählmuster, das später zu einem Markenzeichen paranormaler Romantik werden wird.

Insgesamt gibt es in diesem Buch nicht viel Action. Das meiste davon (vor allem der mittlere Teil) ist gefüllt mit Dialogen zwischen Eddi und dem Phouka oder anderen Mitgliedern ihrer Band. Obwohl es einige gute Ideen enthält, werden sie in diesem Roman nicht ausgenutzt. Auf der positiven Seite ist der Schreibstil begeisternd, und die Geschichte ist sehr einfallsreich, aber die Charaktere sind klischeehaft (der Preis des Tapferen, die edle Königin, die böse Hexe, usw.). Der Phouka ist eine Ausnahme, da er subtiler zu sein scheint als die anderen.

Ich erwähnte dieses Buch aus historischen Gründen, weil es die Voraussetzungen für jene erfolgreicheren Romane und Serien schafft, die urbane Fantasy mit paranormaler Romantik verbinden.

Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch Bedlam’s Bard (1998) von Mercedes Lackey, das Ähnlichkeiten mit dem Krieg um die Eichen hat. Auch hier handelt es sich um eine Geschichte über Musik und Elfen in einer zeitgenössischen Umgebung. Es ist interessant zu sehen, wie urbane Fantasy-Autoren Folk- und Rockmusik in ihre Erzählungen integriert haben. Charles de Lint erzählt in seinen Geschichten oft von Musik, und das ist kein Zufall. In den 70er Jahren beeinflusste die Fantasy- und Horrorliteratur die Populärmusik in hohem Maße, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass die Musik in den 80er und 90er Jahren sozusagen diese Gunst erwiderte, indem sie eine neue Generation von Fantasy-Geschichten inspirierte. Dieses riesige Thema verdient allerdings einen gesonderten Beitrag; denn nun wollen wir wieder zur Sache kommen und über Vampire sprechen!

Hier sind Vampire!

Heute sind Vampire aus der urbanen Fantasy nicht mehr wegzudenken. Sie sind überall. Anfang der 90er Jahre war dies jedoch nicht der Fall. Der Roman, der Vampire in die urbane Fantasy einführte, war 1993 „Bittersüße Tode“ von Laurell K. Hamilton, der erste Teil der Anita Blake-Serie.

Wie ich bereits im Artikel über die Ursprünge der urbanen Fantasy erwähnt habe, ist es schwierig, die Grenzen zwischen Vampir-Fantasy (einem Subgenre der Horrorliteratur) und urbaner Fantasy zu ziehen. Meiner Meinung nach besteht der Unterschied zwischen Horror und Fantasy darin, dass ersteres eher introvertiert und letzteres eher extrovertiert ist. Horrorliteratur konzentriert sich oft auf das, was die Charaktere fühlen, mit einem Schwerpunkt auf starke negative Emotionen wie Ärger, Angst, Trauer, etc.. Fantasy stützt sich mehr auf den Sinn für das Wunder, und beinhaltet in der Regel einen umfangreichen Weltenbau, um diese Wirkung zu erzielen. Das ist keineswegs eine absolute Regel, aber sie gilt doch recht häufig.

„Bittersüße Tode“ ist schwer zu kategorisieren, da es sich gleichermaßen an Horror-, Thriller- und Fantasy-Genres anlehnt. Der Roman spielt in einer Welt, in der Vampire den Lebenden ihre Existenz offenbarten. Wie zu erwarten war, sorgte eine solche Offenbarung für Aufregung, wenn nicht gar Panik. Schließlich sind Vampire für Menschen keine Opfer. Was sollte also der rechtliche Status eines Vampirs in unserer Gesellschaft sein? Sollten sie die gleichen Rechte wie die Lebenden haben?

Die Autorin überspringt gerne die sozialen und rechtlichen Aspekte dieses Problems, um sich auf die Handlung zu konzentrieren. Anita Blake hat einen ungewöhnlichen Beruf: Sie ist Animatorin und arbeitet für die Polizei. Sie erweckt die Toten, damit die Polizei sie verhören kann. Praktisch für die Polizei, nicht wahr? Ihre Hauptzeugen sind tot? Keine Sorge, Anita Blake wird sie für Sie wiederbeleben!

Ihr anderer Job ist noch gefährlicher: Sie richtet Vampire hin. Wenn sie einen Gerichtsbeschluss zur Hinrichtung hat, kann sie einen Vampir in aller Legalität töten. Wenn sie keinen Gerichtsbeschluss hat … Nun, sie tötet diese Blutsauger sowieso. Nicht alle Vampire werden im Roman als blutrünstige Monster dargestellt, aber es wird angedeutet, dass die meisten von ihnen genau das sind. Wir sind nicht weit von der TV-Serie Buffy – Im Bann der Dämonen (1997-2003) entfernt. Kurz gesagt, Anita Blake ist eine selbsternannte Agentin 007 mit einer Lizenz zum Töten, und sie benutzt diese Lizenz recht großzügig und eliminiert die bösen Jungs, ob sie nun leben oder untot sind. Mit „Jungs“ meine ich sowohl Männer als auch Frauen, denn der Hauptschurke des Romans ist ein weiblicher Vampir. Kein Sexismus hier.

„Bittersüße Tode“ ist ein Roman, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite beschäftigt. Hamilton zeichnet sich durch die Kunst aus, Spannung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Ihr Stil ist voller starker Empfindungen. Es wäre jedoch unfair zu sagen, dass der Roman nur sensationslüstern ist. Unter einer relativ flachen Vampirjägergeschichte kann man einige interessante Beobachtungen über die menschliche Psychologie ausmachen.

Hamilton ist wahrscheinlich die erste urbane Fantasy-Autorin, die sich in das Reich der weiblichen Fantasien vorwagt. Im folgenden Jahrzehnt werden wir vielen Schriftsteller/innen auf diesem Weg folgen. Diese Fantasien sind nicht so unschuldig, wie es sich männliche Autoren vielleicht vorgestellt haben. Zum Beispiel werden viele Frauen von Männern mit starken Persönlichkeiten angezogen. Das wussten wir spätestens seit Byron und seinen Gedichten über charismatische, aber gefährliche Männer. Seit Anfang der 40er Jahre beschäftigt sich das Kino mit diesem Thema. Gefahr und Romantik – eine gewinnbringende Kombination! Humphrey Bogarts Verkörperungen mögen hart, manchmal sogar gefährlich gewesen sein, aber keine von ihnen konnte sich in Raffinesse und Wildheit mit Anne Rices Lestat oder Hamiltons Jean-Claude messen.

Raffinesse, Wildheit und Sexappeal – das ist die siegreiche Kombination für einen Vampir in einem urbanen Fantasy-Roman. Hamilton verstand das und stellte Vampire als die Verkörperung der tiefsten weiblichen Wünsche dar. Obwohl diese Ansicht zunächst schockierend erscheinen kann, ist sie angesichts der jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse überraschend aufschlussreich. (Für wissenschaftliche Informationen zu diesem Thema empfehle ich das Handbuch der Evolutionären Psychologie von D. M. Buss. Siehe insbesondere das Kapitel Sexuelle Interessen von Frauen über den gesamten Ovulationszyklus hinweg: Funktion und Phylogenie von S. W. Gangestad, R. Thornhill und C. E. Garver-Apgar.)

Sprechen wir nun über einen anderen urbanen Fantasy-Autor, der das Genre mitgestaltet hat. Er braucht keine besondere Vorstellung; meine Damen und Herren, hier ist Neil Gaiman!

Niemalsland von Neil Gaiman

„Niemalsland“ begann als Fernsehserie, die erstmals 1996 auf BBC Two ausgestrahlt wurde. Sie wurde von Neil Gaiman und Lenny Henry geschrieben und von Dewi Humphreys inszeniert. Im selben Jahr adaptierte Gaiman die Serie zu einem Roman. Und was für ein einflussreicher Roman das war!

Niemalsland ist eine Parallelwelt, die neben der unseren existiert, aber normalerweise von uns nicht gesehen werden kann. Manchmal fallen Menschen aus unerklärlichen Gründen „durch die Ritzen“ und werden Teil dieses unsichtbaren Universums. Gaiman benutzt dies als Metapher für soziale Ausgrenzung; diese Menschen sind nicht mehr Teil der zivilisierten Gesellschaft, verloren alles, was sie besaßen, sind obdachlos und müssen den rücksichtslosen Regeln der Unterwelt gehorchen. Doch so grimmig dieser Ort auch erscheint, er ist voller Abenteuer und Magie, was ihn für eine romantische Seele attraktiver macht als unsere scheinbar sichere und berechenbare technologische Welt.

Es gibt keine Vampire oder Werwölfe in Niemalsland, aber es gibt alle möglichen fantastischen Kreaturen, einige von ihnen sind dabei fremdartiger als andere. In diesem Roman entdeckt der Protagonist die Existenz eines unsichtbaren London, eines unterirdischen London. Hinter jeder Londoner U-Bahn-Station verbirgt sich eine geheime Welt, die an die mittelalterliche Vergangenheit der Stadt erinnert. Es gibt ein Kloster unter Blackfriars, am Earl’s Court lebt ein echter Graf mit seinem Hof, und unter Angel versteckt sich … na ja, ein Engel! Interessanterweise gibt es in Niemalsland keine paranormale Romanze, nicht einmal einen Hinweis darauf – das ist urbane Fantasy in ihrer reinsten Form.

Ich glaube, Niemalsland ist einer der besten urbanen Fantasy-Romane überhaupt. Witzig, fantasievoll, aber auch zum Nachdenken anregend – so sollte das Genre sein. Im Mittelpunkt einer urbanen Fantasy-Geschichte sollte die Stadt stehen, das urbane Leben mit seinen Gegensätzen und Paradoxien.

Urbane Fantasy mag ein eskapistisches Genre sein, aber dies ist ein zweideutiger Eskapismus, der uns immer wieder in die Realität zurückführt. In Niemalsland wird dieser zweideutige Eskapismus durch die Konflikte, die der Protagonist im oberen und auch im unterirdischen London hat, aufgezeigt. Ersteres repräsentiert die Realität, zweites die Fantasie.

Gaiman produzierte weitere bemerkenswerte Werke, insbesondere die Comic-Serie „Sandman“ und den Roman „American Gods“ (2001), für die er mehrere Preise erhielt, darunter Hugo, Nebula, Locus und Bram Stoker Awards.

Im nächsten Beitrag zur urbanen Fantasy werden wir über die Entwicklung des Genres im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sprechen, beginnend mit Jim Butcher und Kelley Armstrong.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht.

Alle Beiträge ansehen von MEP →

Das geht hier nicht.

Entdecke mehr von Phantastikon

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen