Der Fall Alice

Der Fall Alice im Wunderland (Guillermo Martinez)

Der Fall Alice im Wunderland
Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland

Mit „Der Fall Alice im Wunderland“ gewann Martinez 2019 den spanischen Nadal-Preis und ist die Fortsetzung von Die Oxford-Morde. Beide Romane können dennoch völlig unabhängig voneinander gelesen werden. Was sie verbindet ist der Schauplatz Oxford und die Figuren des berühmten Logik-Professors Arthur Seldom, des argentinischen Studenten Martin, sowie des Polizeiinspektors Petersen. Mit ein paar Sätzen verlässt Guillermo Martínez den vorherigen Roman, einen Fall, der eigentlich schon abgeschlossen war, um sich auf diese neue Geschichte zu konzentrieren, eine Geschichte, deren Hauptfigur nicht Seldom oder Martin ist, sondern Lewis Carroll und das Universum von Alice im Wunderland.

Der Roman basiert auf realen Ereignissen, wie dem Fund eines Zettels, der den Inhalt der aus den Tagebüchern von Lewis Carrol herausgerissenen Seiten zusammenfasst, um einen völlig fiktiven Mordfall zu schaffen.

Lewis Carroll
Lewis Carroll

Dies geschieht in einem sehr britischen Stil, nicht nur wegen des Schauplatzes Oxford, sondern auch, weil er, wie schon bei den Oxford-Morden, unweigerlich an den Stil der Romane von Agatha Christie erinnert. Denn obwohl er an mehr Schauplätzen spielt als sein Vorgänger, könnte er sehr gut als Theaterstück umgesetzt werden. Es gibt wahrscheinlich mehr Dialoge und Überlegungen als Handlung.

Die Geschichte des Romans dreht sich um eine Gruppe von Fans von Lewis Carroll, dem Autor von Alices Abenteuer im Wunderland, eine Bruderschaft, die nicht nur das Werk und das Vermächtnis des Schriftstellers bewahrt, sondern auch seinen Mythos pflegt und sein Andenken schützt. Unter ihnen ist auch Seldom. Es ist ein heikles Thema – vielleicht heute mehr denn je, auch wenn der Roman vor einem Vierteljahrhundert spielt -, denn wie wir wissen, wurde das Werk, das Carroll, der eigentlich Charles Dodgson (1832-1898) hieß, unsterblich machte, von einer der Töchter eines gewissen Henry Liddell, seines Dekans am Christ Church College in Oxford, inspiriert. Dodgson, der Mädchen liebte und ein erfahrener Fotograf war, brachte diese beiden Leidenschaften zusammen und porträtierte Liddells Töchter – wie auch viele andere Mädchen – bei zahlreichen Gelegenheiten. Die Grenze zwischen dieser freizügigen Faszination und ihren dunkleren Konnotationen war schon immer eine Quelle von Konflikten, die zweifellos durch die Falten einer Epoche – der viktorianischen – genährt wurden, deren moralische Strenge voller Widersprüche war.

Alice Liddell
Alice Liddell als Bettlerin

Die Handlung des Romans wird durch das Auftauchen eines kleinen Zettels ausgelöst. Darauf notiert eine von Carrolls Nichten, misstrauisch, aber letztlich schuldbewusst, das Wesentliche dessen, was auf einer der Seiten stand, die sie aus den Tagebüchern des berühmten Schriftstellers herauszureißen beschloss. Das Seltsame ist, dass dieses Blatt von all jenen, die sein Leben bis ins kleinste Detail erforscht haben, darunter auch Mitglieder der Bruderschaft, unbemerkt blieb. Diese wenigen Zeilen, so scheint es, könnten die Perspektive, aus der Carroll bisher betrachtet und beurteilt wurde, erheblich verändern. Sie würden unter anderem die Gründe für seinen Bruch mit der Familie Liddell offenbaren. Die bevorstehende Veröffentlichung der Tagebücher wirbelt alle möglichen Gespenster auf und es geschehen Morde, die direkt aus Carrolls Büchern entnommen zu sein scheinen.

Martinez ist ein überzeugter Anhänger des Klassizismus, und seine Herangehensweise an die „weiße“ Polizeiarbeit (bei der nur der Verstand zur Lösung kommt und alle Emotionalität hinten angestellt wird) ist ein Bekenntnis zu seinen Prinzipien. Die Darstellung der Charaktere – die weiblichen sind vielleicht am gelungensten -, die Entwicklung der Handlung und ihr Fortschreiten bis hin zur Auflösung der Schleier am Ende entsprechen bestimmten Klischees des klassischen Kriminalromans, und es steht außer Frage, dass er sie mit Geschick wieder aufgreift. Am besten ist der Roman jedoch, wenn er seine Vorlage aus den Augen verliert, insbesondere, wenn er in die Zwischenräume und Zweideutigkeiten von Carrolls geheimnisvollem Leben eintaucht.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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