Die schwarze Frau

Die schwarze Frau (Simone St. James)

Hier haben wir es mit einer gelungenen Mischung aus Krimi und Geistergeschichte zu tun. Nicht etwa im Sinne einer Urban Fantasy, sondern ganz klassisch. Zwei Morde aus zwei Epochen werden hier mit einem unheimlichen Internat für unliebsame Mädchen zusammengeführt. Die beiden Erzählstränge kann man auch an den unterschiedlichen Titeln ablesen. Da hätten wir das Original – Broken Girls -, der sich auf die Mädchen bezieht, und „Die schwarze Frau“, was den Spuk selbst betrifft.

Die schwarze Frau von Simone St James
Die schwarze Frau von Simone St James

In Vermont im Jahr 2014 wird die Journalistin Fiona Sheridan von dem 20 Jahre zurückliegenden Mord an ihrer älteren Schwester Deb verfolgt. Obwohl Tim Christopher, Debs ehemaliger Freund und auch ihr Mörder, außerdem Sohn einer wichtigen lokalen Familie, schnell gefasst wurde und die letzten 20 Jahre im Gefängnis verbracht hat, kann Fiona nicht aufhören, sich damit zu beschäftigen. Immer wieder zieht es sie nach Idlewild Hall, einem verlassenen Internat, auf dessen Grund Debs Leiche gefunden wurde. Als sie erfährt, dass die verfallene Schule restauriert wird, beginnt sie für einen Artikel zu recherchieren. Das Gebäude selbst ist so baufällig, dass die Restaurierung Millionen von Dollar kosten wird und niemals Gewinn abwerfen kann. Warum sollte sich jemand also die Mühe machen?

In den 1950er Jahren ist Idlewild Hall der Ort, an den die vergessenen Mädchen geschickt werden. Die Störenfriede. Die Unerwünschten. Die Promiskuitiven und Verwegenen. Die Lehrerinnen sind hier nicht mehr als Wärter, die sich als Lehrerinnen verkleiden, um harte Vorschriften durchzusetzen, die den Geist zerstören. Aber es gibt einen gewissen Trost in der Freundschaft. Es gibt vier Mädchen, die im Dunkeln miteinander flüstern und im Mondlicht, das durch ihr schmutziges, frostiges Fenster fällt, von ihren Träumen sprechen. Ungeachtet der unterschiedlichen Lebenswege haben sie einen Weg gefunden, sich zusammenzutun und ein winziges Stückchen Glück in einer ansonsten kargen Existenz zu finden.

Katie, eine bildhübsche und stürmische junge Frau mit einem losen Mundwerk und cleverem Ehrgeiz. Die sportliche Roberta, mit großer Loyalität und einem traurigen Geheimnis, das sie hütet, CeCe, das ungewollte uneheliche Kind eines reichen Mannes; ein Mädchen, das bei jeder Gelegenheit versucht, optimistisch zu bleiben. Und Sonia, das stille und zerbrechliche Mädchen mit dem französischen Akzent. Sie hat die schwierigste Vergangenheit von allen, da sie ein Konzentrationslager überlebt hat.

Sie alle kümmern sich umeinander und begegnen im Verborgenen einem anderen Mädchen von Idlewild … oder besser gesagt, sie begegnen ihrem Geist. Dem Geist von Mary Hand, einer jungen Frau, der in der Schule umgeht und beängstigende Bilder übermittelt. Die Legende besagt, dass Mary Hand und ihr Baby irgendwo auf dem Internatsgelände begraben liegen.

Als die stille Sonja verschwindet, behaupten die Lehrerinnen, sie sei mit einem Jungen weggelaufen. Aber die Mädchen wissen, dass etwas viel Schlimmeres passiert ist.

Das sind also die beiden Voraussetzungen, die wir hier vor uns haben.

Während die Zeit voranschreitet und die unliebsamen Mädchen in Vergessenheit geraten, verkommt Idlewild Hall zu einem Haufen zerbröckelter Ziegel und Trümmer. Die Gärten und das Gelände bestehen nur noch aus wucherndem Unkraut, dessen einziger Zweck es ist, jegliche Erinnerung an die Schule zu verdecken und zu verschleiern. Der Ort ist so kaputt wie die Mädchen, die er einst beherbergte, aber die Geheimnisse, die er birgt, bleiben für einige wenige erhalten. Darunter Fiona Sheridan. Sie hat zugelassen, dass der Mord und seine Folgen eine ständige Unterströmung der Besessenheit in ihrem Leben bleiben, ungeachtet der Tatsache, dass der Freund ihrer Schwester verhaftet wurde und für das Verbrechen ins Gefängnis kam. Irgendetwas an dem Fall schien allerdings nie richtig zusammenzupassen.

Als der Bautrupp in Idlewild auftaucht, um mit der Restaurierung zu beginnen, wächst Fionas journalistischer Ehrgeiz. Als sie beginnt, die seltsamen Umstände der Sanierung eines so traurigen und einsamen Bauwerks zu erforschen, stößt sie auf mehr Ungereimtheiten, als sie erwartet hat. In den Tiefen der Schule und den Akten sind gewisse Geheimnisse verborgen, die fast so tief vergraben wurden wie die Leiche, die bei den Ausgrabungen gefunden wird. Wer ist das tote Mädchen, und was ist ihre Verbindung zu Idlewild? Fiona macht es sich zur Aufgabe, Antworten zu finden, auch wenn das bedeutet, dass sie dabei ihr ganzes Leben in Schutt und Asche legt.

Simone St. James ist die preisgekrönte Autorin solcher Romane wie Der Geist der Maddy Clare und Zimmer 103. Sie hat ein Händchen dafür, Geschichte zum Leben zu erwecken und sie mit unheimlichen Nuancen und spannenden Skizzen zu verbinden. Sie ist bekannt für ihre eindrucksvollen Zeichnungen starker weiblicher Charaktere und die anschauliche Art und Weise, mit der sie ihre Abenteuer und Handlungen verwebt. Allerdings hat das vorliegende Buch seine Schwächen, denn es fühlt sich in Teilen unausgewogen an. Man könnte fast sagen: zu kurz für die in ihm wohnende Thematik. Manche Passagen bleiben aufgrund er begrenzten Seitenzahl trotz des guten Schreibstils an der Oberfläche.

Abgesehen von diesen Mängeln ist das hier dennoch eine angenehme Lektüre, besonders die Teile, die sich auf die Mädchen im Internat konzentrieren. Die Autorin bindet Mary Hand gekonnt in einen Krimi ein, und das, obwohl die Variation des Spuks nun wirklich keine Überraschung bietet, und auch der eigentliche Kriminalfall nur aus gängigen Versatzstücken besteht.

Das Buch erschien 2019 bei Goldmann.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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