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Coelho Neto, ein brasilianischer Autor unheimlicher Phantastik

Man könnte nicht sagen, dass die brasilianische Phantastik im deutschen Sprachraum sehr bekannt oder populär wäre – es sei denn, man zählt den unsäglichen Kitsch-Mystiker Paulo Coelho zur phantastischen Literatur. Ich habe seinerzeit mit wenig Erfolg bei Suhrkamp zwei Bände moderner brasilianischer Autoren veröffentlicht: die Sammlung unheimlicher Erzählungen Die Struktur der Seifenblase. Unheimliche Erzählungen, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Alfred Opitz, von Lygia Fagundes Telles (1923- ), als Bd. 105 der „Phantastischen Bibliothek“ (suhrkamp taschenbuch 932) und 1993 Der Feuerwerker Zacharias (Os dragões e outros contos). Aus dem. brasilianischen Portugiesisch mit einem Nachwort von Ray-Güde Mertin, von Murilo Rubião (1916-1991), („Phantastische Bibliothek Bd. 292, suhrkamp taschenbuch 2151, als Nachdruck der Buchausgabe bei Suhrkamp von 1981). Das waren, trotz täuschender Einfachheit und paradoxer Klarheit der Formen komplexe modernistische Texte, die wenig mit klassischen Gespenster- oder Horrorgeschichten zu tun haben, sondern vielmehr das Absurde als Metapher für das Absurde menschlicher Existenz verwenden.

Ein noch unbekannterer Autor als Lygia Fagundes Telles oder Murilo Rubião ist Henrique Maximiano Coelho Neto (geboren am 21. Februar 1864 in Caxias, Maranhão, Brasilien; gestorben am 28. November 1934 in Rio de Janeiro). Unbekannt ist er nicht nur im deutschen Sprachraum, auch in seiner Heimat ist er weitgehend in Vergessenheit geraten, was an seiner traditionellen Erzählweise liegt, die im Gegensatz zu dem seinerzeit in Brasilien gängigen Modernismo steht. Sein Vater Antonio da Fonseca Coelho war Portugiese, seine Mutter Ana Silvestre Coelho Indianerin. Als er sechs war, zog die Familie von Maranhão nach Rio de Janeiro. Er studierte am Colegio Pedro II , wo er Vorbereitungskurse belegte und schrieb sich dann an medizinischen Fakultät für Medizin an, welchselte aber 1883 an die Fakultat für Rechtswissensschaften in São Paulo. Das Verhältnis mit seinen Lehrern war nicht immer friktionsfrei. Auf Seiten der Republikaner trat er für die Abschaffung der Sklaverei und der Todestrrafe ein und betätigte sich politisch. 1885 kehrte er nach Riio de Janeiro zurück, wo er mit Schriftstellern wie Er schrieb Kritiken für die Gazeta da Tarde und A Cidade do Rio und erste literarische Texte. Er heiratete im Jahr 1890 Maria Gabriela Brandão, die Tochter seines Lehrers Alberto Olympio Brandão, mit der er vierzehn Kinder hatte. Im gleichen Jahr wurde er Sekretär der Landesregierung und 1891 Direktor für staatliche Angelegenheiten. 1892 wurde er zum Professor für Kunstgeschichte an der „Escola Nacional de Belas Artes“ und später zum Professor für Literatur am „Colégio Pedro II“ ernannt. Als Autor zahlreicher Bücher, Artikel, Geschichten und Serien, wurde er 1910 Professor für Theatergeschichte und der dramatischen Literatur an der „Escola de Arte dramatica“ und bald darauf Leiter der Institution. 1926 wurde er Präsident der „Academia Brasileira de Letras“.

Ab 1909 war er Abgeordneter seines Heimatstaates und wurde 1917 wiedergewählt.

1923 wurde er, der vorher ein kompromissloser Gegner des Spiritismus gewesen war, zum Spiritismus und berichtete in einem Interview im Jornal do Brasil am 7. Juni 1923 von einem Telefongespräch mit seiner Enkelin, die im zarten Alter von fünf Jahren gestorben war.

Sein literarisches Werk ist umfangreich, und er veröffentlichte zum Teil unter Pseudonymen: Amador Santelmo, Anselmo Ribas, Ariel, Blanco Canabarro, Caliban, Charles Rouget, Democ, Fur-Fur, Manés, N. Puck und Tartarin. Als sein wichtigster Roman gilt Rei Negro (1914, „Der schwarze König“).

Wegen seiner traditionellen Sichtweise der Literatur und seiner romantischen, oft folkloristisch gefärbten Schreibweise wurde er, damals war der „Modernismo“ in Brasilien die vorherrschende Literaturströmung, von Schriftstellerkollegen zum Teil heftig angegriffen. Sein Werk ist, ungeachtet einiger moderner Ausgaben, weitgehend in Vergessenheit geraten, trotz der literarischen Qualität seiner Texte. Seine Werke galten als anachronistisch, und er grenzte sich entschieden von Modernisten wie Oswald de Andrade ab, aber auch von der Romantik des 19. Jahrhunderts.

Die beiden in Deutschland erschienenen und teilweise einschlägig phantastischen Bücher sind die beiden Novellenbände Wildnis (1913, Sertao, 1896) und Der tote Kollektor. Novellen aus der Welt des Grauens (1915, Auswahl aus Treva, 1906), übersetzt und wohl auch ausgewählt von Martin Brus(s)ot, beide erschienen in Berlin bei Egon Fleischl & Co. Beide sind extrem selten und in Sammlerkreisen gesucht. In beiden Büchern wird Neto Netto geschrieben.

In seinem Vorwort zu Wildnis rühmt der Übersetzer an Neto die „reife, psychologisch vertiefte Kunst, die das Dämonische und Grandiose in der Wildnisnatur und im Dasein ihrer Bewohner zum Gegenstande hat“. Der Band enthält drei Erzählungen, von denen eine, „Die Tapera“ eindeutig phantastisch ist, eine, „Die Blinde“, nicht phantastisch. Das Geschehen in der dritten, „Die Mulattin“ ist wohl nicht phantastisch, erscheint aber im Aberglauben der Schwarzen und Mulattinnen der Sklavenhaltergesellschaft der Zeit als phantastisch. Die wegen ihrer Tochter Luzinha, die eine hellere Haut hat als die übrigen Sklavinnen und vom kinderlosen Gutsbesitzer und seiner Frau wie ein eigenes Kind behandelt wird, bevorzugte Ursulinha wird von den anderen Sklavinnen als arrogant und abgehoben angefeindet, wobei sich besonders eine Luzia durch gehässige Verleumdungen hervortut. Als die die Gutsbesitzerfrau schließlich doch schwanger wird, die Schwangerschaft aber schwierig verläuft, erreicht Luzia durch die Verleumdung, Ursulinha habe ihrer Herrin einen Gifttrank verabreicht, dass Ursulinha und Luzinha auf ein anderes Gut des Herrn verbannt werden, dessen Verwalter als Sadist von extremer Grausamkeit bekannt ist. Bei der Überstellung springt Luzinha mit ihrer Tochter in einen Wasserfall und kommt ums Leben. Die beiden Toten erscheinen den Sklavinnen als Gespenster, und Luzia wird mit grässlichem Gesichtsausdruck, die Hände in die Erde verkrallt, tot aufgefunden, was als Rache der Toten interpretiert wird.

Mit „Tapera“ wird eine aufgelassene Farm bezeichnet. Die fragliche Tapera ist Santa Lucia, die einst eine blühende, furchtbare Fazenda war, die Honorio Silvera gehörte, der seine Sklaven gut behandelte und nie züchtigte. Er heiratet Leonor, eine schöne junge Frau, mit der er glücklich lebt, bis seine Frau anfängt, alte, treue Sklavinnen zu beschuldigen und ihm die alte Frau, Mutter Eva, die Honorio großgezogen hat, gesteht, dass ihn Leonor mit Serapiao, einem schönen, starken Sklaven, in einer alten Mühle betrügt. Er überrascht sie in wilder Umarmung, und er und Eva töten die beiden mit einem Dorn. Diese Eifersuchtsgeschichte wird dem Ich-Erzähler von dem alten einsiedlerischen Waldmenschen erzählt, zu dem Honorio geworden ist, und den er trifft, als er durch die „Tapera“ reitet. Aber es scheint, dass die ganze Eifersuchtsgeschichte und die Begegnung im Wald nur einem Fiebertraum entspringt, denn Honorio und Leonor wurden bei einem Sklavenaufstand getötet. Der Erzähler will sich jedoch nicht streitig machen lassen, was er gesehen und gehört hat! „Und schließlich; Traumbild, Phantasterei oder schmerzliche Wirklichkeit … wer kennt da die Grenzen?“ (S. 159) Die Geschichte wartet mit beklemmenden Bildern eines unheimlichen Waldes auf.

Der tote Kollektor enthält vier Geschichten: „Der tote Kollektor“, „Die Alten“, „Die Geißel“ und die „Die Tauben“.

Die Titelgeschichte ist die beeindruckende Erzählung eines gespenstischen Wiedergängers. Als der Kollektor Silverio vierzig wird, sehnt er sich nach weiblicher Gesellschaft und heiratet die schöne Julieta, die seine Tochter hätte sein können. Zunächst lebt er weiter wie bisher, verändert seine Gewohnheiten in keiner Weise, aber bald wird er von Eifersucht geplagt. Er fürchtet, dass sich seine Frau heimlich mit anderen Männern trifft und befragt Bekannte zunehmend, ob sie seine Frau gesehen hätten. Das führt zu Redereien und Spötteleien hinter dem Rücken des Mannes und seine Frau wagt sich kaum mehr alleine aus dem Haus. Er streitet immer öfter mit ihr und verkündet ihr im Zorn, wenn er einmal sterben sollte und sie es wagen sollte, wieder zu heiraten, werde sie ihre Wunder erleben. Nach einem kurzen, heftigen Fieber stirbt er tatsächlich. Nach seinem Tod übersiedelt Julieta wieder ins Haus ihrer Mutter. Eines Tages tritt dort, begleitet von dem Arzt Passos, einem häufigen Besucher der Familie, den er unterwegs getroffen hat, ein Mann ein, der sich Luis Peres nennt und dem toten Kollektor Silverio wie ein Zwillingsbruder ähnelt. Der Mann spricht wenig und hat immer kalte Hände. Ein Cousin bemüht sich um Julieta, aber der Fremde erscheint wieder, spricht von seiner Einsamkeit, und obwohl ihr vor ihm graut, ist sie unfähig, sich seiner Werbung zu widersetzen. Sie heiratet ihn. Beim Hochzeitsessen starrt sie entsetzt auf seinen kleinen Finger, der den Ring Silverios trägt. Im Schlafzimmer hört sie ein sonderbares Gesumme wie von einem Bienenschwarm, ihr Mann nennt sie mit dem gleichen Kosenamen wie Silverio: „Jeta“, kalte Hände streichen über ihren Leib, und eine Stimme wirft ihr vor, er habe ihr doch gesagt, sie solle nicht heiraten. Entsetzt flieht sie und zeigt auf einen dunklen Korridor, wo sich Silverio gezeigt haben soll. Das Zimmer ist verwüstet. Als der Arzt kommt, bemerkt er, dass auf dem Fußboden von der Kommode bis zum Bett Erde und Blumenreste verstreut sind. Der Arzt fährt zum Friedhof und lässt sich das Grab Silverios zeigen, das völlig zerwühlt ist. Reste eines Blumenkranzes sind noch erkennbar. Der Totengräber beschuldigt die Schweine Manuel Valentos, die öfter den Friedhof zerwühlen. Der Arzt reitet, es wird schon dunkel, fort. Als er ein seltsames Geräusch hört, wie wenn erschreckte Vögel aufflattern, blickt er zurück – und gibt seinem Pferd die Sporen und macht sich in vollem Galopp davon. Diese Geschichte ist echt phantastisch, bezwingend unheimlich und düster.

Die übrigen drei Erzählungen sind sehr gruselig, aber eher überzeugende psychologische und soziale Studien von beängstigenden Wahnvorstellungen, als dass sie ein echte Eingreifen des Übernatürlichen postulieren würden.

In „Die Alten“ liegt außerhalb einer düsteren Stadt das Anwesen des alten Korbflechters Thomé Sahyras. Er lebt sehr bescheiden mit seiner Frau Romana, die einige Jahre älter ist als er. Sie sind herumgezogen, bis er sich mit eigenen Händen ein festes Häuschen errichtete. Romana stellt allerlei Salben und Tinkturen her, und hilft Kranken ohne Entgelt. Sie soll auch Rinder durch ein Wunder von Würmern befreit haben. Thomé ist ein schwächliches Männchen, dennoch hat er einst den berüchtigten Neger Silvino Peba, der ihn provoziert hat, das Messer in den Leib gestoßen, so dass der ein Monat im Krankenbett lag.

Einmal findet Romana nach ihrer Rückkehr Thomé bewusstlos am Boden liegend, und er ist nicht zu erwecken. Sie sucht einen alten Neger auf, der als erfahren in den Heilkünsten gilt. Der geile Bock will ihr nur helfen, wenn sie ihm nach erfolgter Heilung zu Willen ist. Als sie aber daheim ankommen, ist Thomé bereits auf und gesund, und sie verweigert sich dem Neger, der ihren Mann mit einem Gebet unterwegs gesund gemacht haben will. Der Mann verflucht sie, Gott werde sie strafen.

Thomé entwickelt eine unbändige Furcht, er könne lebendig begraben werden. Als er fiebert, von seiner Frau gepflegt und mit warmen Decken zugedeckt, und schließlich stirbt, lässt ihn die Frau im Bett liegen. Sie will nicht wahrhaben, dass er tot ist, die Leiche verwest, ein fürchterlicher Geruch macht sich bemerkbar, um das Haus sammeln sich Geier, die wartend auf dem Hausdach sitzen. Im Dorf, wo man die beiden schon einige Zeit nicht mehr gesehen hat, wird man auf die Geier aufmerksam, man hält Nachschau, die Haustür wird aufgebrochen, man findet Thomé schon ganz verwest, voller Fliegen, und Romana völlig entkräftet. Sie kann nicht mehr gerettet werden, und die beiden werden begraben. Die Geschichte beeindruckt vor allem durch die Schilderung des langsamen Verfall Thomés und das Leben einfacher Leute in der brasilianischen Wildnis.

Die Geißel der gleichnamigen Geschichte ist die Cholera. In der Wildnis bricht eine Seuche aus. Die Erkrankung befällt auch den dreisten Viehhirten Raymundo, den Sprössling eines Mulatten und einer Negerin. Er fiebert lange und heftig, übersteht aber die Krankheit. Halb im Fieberwahn sucht er die alte Ursula, die als Hexe gilt und allgemein gehasst wird, und an der Böschung des Flusses in einer Erdhöhle haust, zu berauben, als er einen Beutel um ihren Hals bemerkt, in dem er Geld vermutet. Geld, das sie ihm verweigert hat. Die Alte wehrt sich heftig, als er versucht, ihr den Beutel zu entreißen, und er erschlägt sie voller Wut mit einem Stock. Sie fällt in den Sumpf. Das Verbrechen wird wandernden Zigeunern zugeschrieben. Der Beutel enthält zu seiner Enttäuschung nur ein Skapulier. Raymundo kann keine Ruhe mehr finden, ständig wird er von Visionen der Toten heimgesucht und von Reue geplagt. „Mutter Dina“ erscheint ihm immer wieder, ein zahnloses Gebiss voller Würmer. Von Entsetzen geplagt, hetzt er sein junges Pferd zu Tode und stürzt in den Fluss.

Das Söhnchen des Ehepaars Joanna und Tiburcio liegt in „Die Tauben“ krank in der Kammer. Der Vater beobachtet den Taubenschlag, denn vom Verhalten der Tauben erwartet er sich Aufschluss über das Schicksal des Sohnes. Sie kehren erst in den Schlag zurück, als der Sohn schon gestorben ist. Voller Wut klettert er empor und stürzt den Taubenschlag zu Boden. Zwei ganz junge Tauben kommen dabei um. Während unten die Eltern den Tod des Kindes betrauern, beklagen oben die Tauben den Verlust ihres Nachwuchses.

Die Geschichten schildern das Leben einfacher Leute in der Wildnis Brasiliens. Schöne Naturbeschreibungen verbinden sich mit realistischen Schilderungen entsetzlicher sozialer Zustände, die ohne explizite Kritik an Sklaverei sozialkritisch wirken. Glaube an böse Hexen, Magie und böse Vorzeichen halten die Menschen in ihrem Bann. Die Figuren werden von ihren eigenen Wahnvorstellungen heimgesucht und drangsaliert, die sich nur in der ersten Geschichte des Toten Kollektors auch physisch als Wiedergänger des Wahns eines anderen manifestieren. Es sind atavistische Zeugnisse für ihre Schuld und Folgen tief verwurzelter irrationaler Ängste.


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