Das Haus in der Half Moon Street

Das Haus in der Half Moon Street von Alex Reeve

Half-Moon

Leo Stanhope ist der neueste Serienheld aus der Feder von Alex Reeve, und  Das Haus in der Half Moon Street ist der erste Band einer viktorianischen Krimiserie aus dem Jahre 2018, die bei Knaur erschienen ist.

Der zweite Band wird im April 2022 erscheinen, was mich ungemein freut, weil so etwas ja immer auch am Publikum liegt. Der Autor hat es sich nämlich nicht ganz einfach gemacht.

Vielmehr hat er von Beginn an gewusst, dass er mit seinem außergewöhnlichen Helden in ein Wespennest stechen könnte und zum Teil ja auch hat. Das war auch der Grund, warum er im Anhang noch einmal auf seine Absicht hinweisen wollte und dem Leser erklärt, was ihn an der Sache reizte und wie sich Leo schließlich aufdrängte, obwohl Reeve immer wieder mit dem Gedanken spielte, ihn nur am Rande zu beachten.

Der Roman spielt im viktorianischen England um 1880 und fällt schon allein aus diesem Grund in meinen gesteigerten Aufmerksamkeitsbereich, aber auch ich war relativ überrascht, dass hier einige der bekanntesten Tropen des Genres ausgehebelt wurden, ohne die notwendige Atmosphäre in irgendeiner Form anzutasten.

Leo Stanhope arbeitet als Assistent des Gerichtsmediziners und verbringt seine Tage mit dem Schreiben von Berichten und dem Zusammennähen der autopsierten Leichen. Er ist unsterblich in die Prostituierte Maria verliebt und sehnt sich nach dem Tag, an dem sie zusammen sein können, nach dem Tag, an dem sie das Bordell verlassen kann, um sich ganz ihm zu widmen. Als Maria ermordet wird, wird Leo zum Hauptverdächtigen und findet sich plötzlich ohne Freunde und Arbeit im London von 1880 wieder. Er ist – zunächst zögerlich und verwirrt – dazu entschlossen, die Identität von Marias Mörder aufzudecken, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, und sich selbst vor der Schlinge des Henkers zu retten. Aber der Galgen ist vielleicht noch die geringste von Leos Sorgen: Als geborene Charlotte verstößt Leo jedes Mal gegen das Gesetz, wenn er sein Haus verlässt, und wenn sein Geheimnis aufgedeckt wird, droht ihm ein viel schlimmeres Schicksal als der schnelle Tod, den der Henker verspricht.

„Das Haus in der Half Moon Street“ macht uns mit dem jungen Mr. Stanhope und der dunklen Schattenseite Londons bekannt. Alex Reeve beschreibt auf wunderbare Weise die vom Smog gefüllte Stadt und die oft zwielichtigen Gestalten, die sie bewohnen, und nutzt Stanhopes einzigartige Umstände, um die Moral einer Zeit zu untersuchen, in der einige Verbrechen akzeptabler zu sein schienen als andere. Dennoch fokussiert er sich stark auf das Vorwärtsdrängen der Geschichte und auf den Ich-Erzähler Leo, der aus seinem Elternhaus und den konservativen Ansichten seines klerikalen Vaters floh, um seine eigene Identität zu finden und ein Leben fernab von allen zu führen, die ihn in der Vergangenheit als Mädchen gekannt haben könnten.

Stanhope hat sein Geheimnis notwendigerweise nur einigen wenigen Menschen offenbart, und die Reaktionen reichen von Akzeptanz (bei seiner geliebten Maria) bis hin zur Ablehnung (interessanterweise bei den Menschen, die ihn am besten kennen: seinem Bruder und seiner Schwester). Die konservativen Moralvorstellungen der damaligen Zeit sehen in Leo einen Kriminellen, der jedes Mal gegen das Gesetz verstößt, wenn er das Haus in Männerkleidung verlässt. Doch der gleiche moralische Kompass scheint bei Mord und Menschenhandel auf seltsame Weise abwesend zu sein.

Als die Prostituierte, die er liebt, ermordet wird, findet sich Leo zwangsläufig in der Rolle eines Amateurdetektivs wieder, der versucht, ihrem Tod auf die Spur zu kommen. Die ohnehin schon angespannte Situation – Leo gilt zunächst als Hauptverdächtiger in diesem Fall, wird aber später durch den Einfluss von jemandem, der in der Nahrungskette viel weiter oben steht als er, wieder freigelassen – wird durch Leos Situation noch verschärft: Der kleinste Ausrutscher könnte sein Geheimnis verraten und ihn in die Irrenanstalt oder ins Gefängnis bringen. Leo verbündet sich mit der Witwe eines Mannes, der anscheinend von derselben Person getötet wurde, die auch Maria umgebracht hat, und kämpft gegen eine Reihe von Bösewichten jeder Größe und Form, angefangen bei dem respektablen Geschäftsmann, der heimlich die Hälfte der Bordelle in der Stadt betreibt und hinter einem Sexhandel steckt, bei dem junge Frauen von London nach Brüssel transportiert werden, bis hin zu der Bordellbetreiberin, die über ihren Stand hinausgeht, und dem Mann mit einem Wieselgesicht, dessen Loyalität fragwürdig, aber deswegen nicht weniger beängstigend ist.

Alex Reeves Debütroman ist ein klug konstruiertes Rätsel, das durch die Brille des viktorianischen Englands Themen untersucht, die gerade heute noch aktuell sind. Leo Stanhope ist ein außergewöhnlich sympathischer Charakter, mit dem man von Anfang an mit fiebert. „Das Haus in der Half Moon Street“ hat zwar eine ausgesprochen düstere Perspektive, aber auch ein Herz für Witz und Charme, das es nicht nur unterhaltsam, sondern auch unvergesslich macht. Es ist eine fesselnde Geschichte, die den Leser von der ersten Seite an in ihren Bann zieht und ihn bis zum letzten Wort nicht mehr loslässt. Dazu trägt natürlich auch das Versprechen auf weitere Abenteuer des Amateurdetektivs mit dem Alleinstellungsmerkmal bei. Ich gehe davon aus, dass wir in naher Zukunft noch viel von Mr. Reeve und Mr. Stanhope hören. Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt, um dabei zu sein.

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MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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