Echo Thumb

Joe R. Lansdale – Blutiges Echo

Joe R. Lansdale braucht wahrscheinlich keine allzu große Einführung. Er hat eine Menge Preise gewonnen (u.a. sechsmal den Bram Stoker Award) und lieferte die Vorlage für den Kultfilmklassiker Bubba Ho-Tep. Vorliegender Roman stammt von 2007 und lautet im Original „Lost Echos“, erschien 2013 in Übersetzung bei Golkonda und 2015 – man höre und staune – im Suhrkamp-Verlag. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass ich mit der Übersetzung des Titels wieder einmal nicht einverstanden bin, und das keineswegs, weil ich eine originalgetreue Übersetzung um jeden Preis fordere. Wenn aber der Titel – eigentlich „verlorene“ oder „vergessene“ Echos – ganz präzise das wiedergibt, was im Buch geschieht, und von Verlagsseite nur auf die Knalligkeit Wert gelegt wird, erregt das meinen Unmut.

Landsdale beginnt seine Geschichte mit einer lakonischen Ruhe, die ihm als Autor eigen ist. Harry Wilkes, noch im Kindesalter, erwacht aus einem fiebrigen Schlaf und wandert im Dunkeln durch ein ruhiges Haus, wo er in seiner Unschuld schwelgt und sich durch das Wohnzimmerfenster Cartoons im gegenüberliegenden Autokino ansieht, während seine Eltern nichts davon mitbekommen. Die Welt, die hier noch in Ordnung ist, wird auf Anhieb weggerissen, als Harrys Ohrenentzündung zu einem Talent führt, das ihn den Großteil seines Lebens verfolgen wird.

Die Idee ist recht einfach: Die Geschichte eines jungen Mannes, der als Folge einer Kinderkrankheit hört und sieht, was nicht mehr da ist. Oder besser gesagt, was einst geschehen ist, aber als längst vergessene Erinnerung von Grausamkeit, Gewalt und Mord in den Dingen zurückgelassen wurde.

Was „Lost Echoes“ von vielen anderen paranormalen Thrillern unterscheidet, ist der Fokus, der nicht darauf liegt, wie der Held seine Gabe zu nutzen lernt, um die Welt zu retten, sondern wie er versucht, mit dieser Last umzugehen. Zum Beispiel kann das Geräusch, das beim Öffnen eines Handschuhfachs eines Autos entsteht, die Bilder eines Unfalls auslösen, bei dem der Vorbesitzer ums Leben kam. Diese Visionen verfolgen Harry von nun an auf Schritt und tritt und nur der Alkohol gönnt ihm Ruhe, womit allerdings ein neues Problem aufgemacht wird.

Der Roman ist in drei grundlegende Komponenten unterteilt, die sich alle um den Hauptakteur der Geschichte drehen: Der Kampf gegen das eigene Ich, der Kampf gegen den Alkoholismus und das vertrackte kleines Geheimnis von Harrys Visionen, das beide miteinander verbindet. Tatsächlich wird dabei der Aspekt des Thrillers, obwohl er ein tragendes Teil des Ganzen ist, an eine fast unwichtige Stelle gerückt. Während das Rätsel eines angeblichen Selbstmordes, der in Wahrheit ein Mord sein könnte, erst im letzten Teil des Buches zur Blüte gelangt, verbunden mit einer wiedergefundenen Kindheistliebe, dreht sich der Hauptteil um Harrys Kampf gegen seine Alkoholsucht und das Eindämmen seiner schrecklichen Visionen.

Visionäre, Hellseher und Medien gibt es wie Sand am Meer in der paranormalen Belletristik, aber selten besitzen sie eine solche Tiefe und Glaubwürdigkeit. Lansdale stellt Harry als sympathische Figur dar, die von Visionen geplagt wird, die er nicht will und nicht aufhalten kann. Er ist kein weiser Mystiker, der sein vermeintliches Augenlicht nur dann einsetzt, wenn er es für nötig hält; er ist nur ein müdes, überdrehtes Kind, das täglich von einer Flut schrecklicher Bilder überwältigt wird, Überbleibsel der Unmenschlichkeit, die der Mensch sich und anderen antut. Das Böse, das vom Menschen ausgeht, kann nie wirklich eingedämmt werden, und während die meisten es mit der Zeit vergessen können, gibt es einige, wie Harry, die es niemals ignorieren können. Er muss sich mit allem auseinandersetzen, was der Rest von uns zurücklässt; all unsere Ängste, unsere Schrecken und unser Hass, die in das Leben und den Geist des jungen Mannes eindringen.

Unfähig, seiner Gabe oder seinem Fluch zu entkommen, zieht er sich in einen zwanghaften Kokon aus gepolsterten Wänden und geplanten Routen, die er bereits kennt und für unbedenklich hält, zurück. Da taucht Tad auf, ein in die Jahre gekommener Kampfsportmeister mittleren Alters, der jeden Abend seinen eigenen traurigen Erinnerungen mit reichlich Alkohol Tribut zollt – ein verblüffender Kontrast zu dem jungen Harry, der den Alkohol stattdessen dazu benutzt, den verbleibenden Nachhall aller anderen zu betäuben. Gemeinsam begeben sich die beiden auf die Suche, um die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückzugewinnen – ihre Mitte zu finden.

Lansdale erschafft die Welt durch Harrys Augen – oder besser gesagt, durch seine Ohren; der Leser findet die scheinbare idyllische Ruhe einer modernen Kleinstadt, zerrissen durch die leisen, nachhallenden Schreie, die nur Harry zu hören bekommt.

Die Welt ist voller schmutziger Geheimisse und leise gesprochener Lügen, selbst in der besten aller möglichen Umgebungen.

Das geht hier nicht.

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