Würfel, Wahnsinn und Wahrheit – Die dunkle Legende von Dungeons & Dragons

Die erste Ausgabe von D&D

In den frühen 1970er-Jahren, irgendwo in einem bescheidenen Wohnzimmer im Mittleren Westen der USA, schrieben ein paar Männer Geschichte – ohne es zu ahnen. Gary Gygax und Dave Arneson erschufen mit Dungeons & Dragons nicht nur ein Spiel, sondern eine neue Art des Geschichtenerzählens. Sie brachten etwas in die Welt, das mehr war als Würfel und Regeln, mehr als Tabellen und Miniaturen. Sie riefen eine Welt ins Leben, die jenseits des Sichtbaren lag – ein Reich aus Schwertern, Zaubern, Drachen und Heldenmut. Und sie legten damit den Grundstein für eine Kultur, die bis heute wächst.

D&D entstand aus der Leidenschaft für Strategiespiele, Fantasy-Literatur und mittelalterliche Geschichte. Ursprünglich war es eine Erweiterung zu einem historischen Kriegsspiel namens Chainmail, das mit Fantasy-Elementen angereichert wurde – Magie, Monster, Mythen. Bald lösten sich die Geschichten von ihren historischen Wurzeln. Der Fokus verlagerte sich vom militärischen Taktieren zur individuellen Erfahrung: Spieler erschufen Figuren mit Namen, Hintergrundgeschichten und eigenen Zielen. Es war der Beginn des Rollenspiels, wie wir es heute kennen.

Doch so märchenhaft der Ursprung auch war – Dungeons & Dragons zog nicht nur Bewunderung auf sich. In den 1980er-Jahren begann sich ein Schatten über das Spiel zu legen. Es war die Zeit der Satanic Panic, einer moralischen Panikwelle in den USA, in der alles, was nach Okkultismus roch, unter Verdacht geriet. Heavy Metal, Horrorfilme – und eben auch Dungeons & Dragons. Der Vorwurf: Das Spiel fördere Satanismus, schwarze Magie, Realitätsflucht – ja sogar Selbstmord und Mord.

Das Monster-Handbuch

Der wohl bekannteste Fall war der von James Dallas Egbert III., einem hochbegabten, aber psychisch instabilen Studenten der Michigan State University. 1979 verschwand Egbert aus seinem Wohnheim. Schnell wurde spekuliert, dass sein Verschwinden mit Dungeons & Dragons zu tun habe – er sei angeblich in den Dampfkanälen unter dem Campus unterwegs gewesen, um dort das Spiel in realer Umgebung nachzustellen. Die Medien griffen die Geschichte gierig auf. Die Vorstellung eines jungen Mannes, der so sehr in eine Fantasiewelt abtauchte, dass er sich selbst verlor, war zu verführerisch. Auch wenn später klar wurde, dass Egberts Probleme tiefgreifender waren – Depressionen, Drogenmissbrauch, sozialer Druck – blieb die Verbindung zu D&D haften. Als er sich ein Jahr später das Leben nahm, schien das Narrativ vollendet: Dungeons & Dragons als gefährliches Tor zu einer finsteren, seelenverschlingenden Welt.

Diese Erzählung wurde von Persönlichkeiten wie Patricia Pulling verstärkt, einer Mutter, die nach dem Selbstmord ihres Sohnes eine Kampagne gegen Rollenspiele startete. Sie gründete die Organisation B.A.D.D. – Bothered About Dungeons & Dragons – und verbreitete die These, das Spiel sei ein Einfallstor für dämonische Besessenheit. In Talkshows, Nachrichtenformaten und Kirchenversammlungen wurde D&D zum Sündenbock einer verunsicherten Gesellschaft, die nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen suchte.

Hollywood griff die Atmosphäre auf. Der Fernsehfilm Mazes and Monsters mit einem jungen Tom Hanks befeuerte die Ängste weiter. Darin verliert ein Student durch das Rollenspiel den Bezug zur Realität, bis er glaubt, seine Spielfigur sei real – ein tragisches, fiktives Echo auf die tatsächlichen Schlagzeilen. Das Bild des rollenspielenden Jugendlichen als weltfremder, potenziell gefährlicher Sonderling verfestigte sich.

©COPYRIGHT Wizards of the coast

Doch die Wahrheit war – und ist – vielschichtiger. Während die Öffentlichkeit sich an Schlagzeilen klammerte, wurde D&D in stillen Kellerräumen, in Schulbibliotheken und Jugendzentren zu einem Zufluchtsort für die, die anders waren. Für Außenseiter, Träumer, Kreative. Für Kinder, die in ihrer Welt keinen Platz fanden, aber in Faerûn oder Greyhawk mutige Paladine und listige Zauberer sein durften. Rollenspiel konnte, entgegen aller Vorwürfe, verbinden, stärken, sogar heilen.

Psychologen und Soziologen begannen sich in den 1990ern intensiver mit dem Phänomen zu befassen. Die Ergebnisse widerlegten die Panikmache: Kein direkter Zusammenhang zwischen Rollenspiel und psychischer Instabilität. Im Gegenteil – D&D förderte soziale Kompetenzen, Problemlösungsfähigkeiten und kreative Ausdruckskraft. Es half Jugendlichen, über Ängste zu sprechen, Rollen auszuprobieren und im geschützten Rahmen mit Emotionen umzugehen. Was als dämonisch verschrien war, entpuppte sich als Werkzeug der Selbstfindung.

Mit dem Aufstieg von Popkultur-Phänomenen wie Stranger Things und dem Erfolg von Streamingformaten wie Critical Role wurde D&D in den 2010er-Jahren neu entdeckt – diesmal nicht als Bedrohung, sondern als Kulturgut. Die Würfel rollten wieder, aber das Echo klang freundlicher. Der Mythos blieb, doch der Schatten wich zurück.

Heute, über fünfzig Jahre nach seiner Entstehung, ist Dungeons & Dragons mehr als ein Spiel. Es ist ein Spiegel der Fantasie, ein Portal zu anderen Welten – aber auch ein Mahnmal dafür, wie schnell Gesellschaften das Fremde dämonisieren, wenn sie es nicht verstehen. Die dunklen Geschichten rund um das Spiel sind Teil seiner Geschichte – nicht, weil sie wahr wären, sondern weil sie zeigen, wie mächtig Geschichten sein können.

In einem Raum, irgendwo, sitzen heute wieder vier Freunde um einen Tisch. Kerzen flackern. Charakterbögen liegen ausgebreitet, Würfel klackern. Einer liest vor: „Vor euch erhebt sich der schwarze Obelisk. Nebel kriecht aus den Fugen des Tempels. Ein Wind weht euch fremde Worte zu – in einer Sprache, die niemand kennt…“ Und mit einem Atemzug sind sie fort – nicht verloren, sondern gefunden. In einer Welt, in der alles möglich ist.

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