Habt ihr schon einmal von Marie Camille Monfort gehört?
Im Juni 2023 tauchten in den sozialen Netzwerken Bilder einer angeblichen lyrischen Sängerin auf, die Ende des 19. Jahrhunderts gelebt hatte, aus Frankreich eingewandert war und sich in der brasilianischen Stadt Belém do Pará niedergelassen hatte.
Die Geschichte für diejenigen, die sie nicht gelesen haben, lautet wie folgt:
CAMILLE MONFORT, DIE VAMPIRIN DES AMAZONAS

Im Jahr 1896 erlebte Belém durch den weltweiten Kautschukhandel einen Aufschwung, der die Grundbesitzer über Nacht bereicherte. Sie errichteten ihre reichen Paläste mit Materialien aus Europa.
Das Theatro da Paz war das Zentrum des kulturellen Lebens in Amazonien und bot Konzerte europäischer Künstler. Eine von ihnen erregte die besondere Aufmerksamkeit des Publikums: die schöne französische Sängerin Camille Monfort (1869–1896). Sie löste bei den reichen Herren der Region ungezügelte Begierde und bei ihren Frauen grausame Eifersucht aus.
Auch Camille Monforts Verhalten, das sich von den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit losgelöst zeigte, sorgte für Empörung. Man sah sie halbnackt durch die Straßen von Belém tanzen, während sie sich im nachmittäglichen Regen abkühlte. Ebenso sah man sie bei einsamen Abendspaziergängen in ihren langen, wallenden schwarzen Kleidern an den Ufern des Guajará-Flusses.

Schon bald machten Gerüchte über sie die Runde, die Anlass zu bösartigen Kommentaren gaben. Man munkelte, sie sei die Geliebte von Francisco Bologna, der sie aus Europa mitgebracht hatte. Angeblich badete er sie in der Badewanne seines Palasts mit teurem, aus Frankreich importiertem Champagner. Es hieß auch, sie sei in London wegen ihrer Blässe und ihres kränklichen Aussehens vom Vampirismus befallen worden und habe diese Krankheit nach Belém gebracht. Angeblich habe sie ein mysteriöses Bedürfnis, menschliches Blut zu trinken. In ihren Konzerten soll sie junge Mädchen mit ihrer Stimme hypnotisiert haben. Sie schliefen in ihrer Garderobe ein, wo die rätselhafte Dame ihnen das Blut aussaugte (was seltsamerweise mit Berichten über Ohnmachtsanfälle in den Theaterräumen während ihrer Konzerte zusammenfiel, die als bloße Auswirkung der starken Emotionen erklärt wurden, die ihre Musik in den Ohren des Publikums auslöste). Man sagte ihr auch nach, sie besäße die Macht, mit den Toten zu kommunizieren und deren Geister in dichten, ätherischen Nebeln aus ektoplasmatischen Materialien zu materialisieren, die von ihrem eigenen Körper in medialen Séancen ausgestoßen würden. Dies wären dann zweifellos die ersten Manifestationen dessen, was später als Spiritismus bezeichnet wurde und in geheimnisvollen Kulten in Palästen von Belém, wie dem Palacete Pinho, im Amazonasgebiet praktiziert wurde.
Ende 1896 wurde die Stadt Belém von einer schrecklichen Cholera-Epidemie heimgesucht, der unter anderem Camille Monfort zum Opfer fiel. Sie wurde auf dem Friedhof von Soledade begraben.
Ihr Grab befindet sich heute dort, überwuchert von Schlamm, Moos und trockenen Blättern, unter einem riesigen Mangobaum. Der Baum lässt das Grab in die Dunkelheit seines Schattens versinken, nur ein paar Sonnenstrahlen, die durch seine grünen Blätter dringen, erhellen es. Das klassizistische Mausoleum verfügt über ein Tor, das mit einem alten, rostigen Vorhängeschloss versehen ist. Von dort aus kann man eine weibliche Büste aus weißem Marmor auf dem breiten Deckel des verlassenen Grabes sowie ein kleines, gerahmtes Bild einer schwarz gekleideten Frau an der Wand sehen. Auf dem Grabstein ist die Inschrift zu lesen:
Hier ruht
Camille Marie Monfort (1869 – 1896)
Die Stimme, die die Welt verzauberte
Es gibt jedoch auch diejenigen, die bis heute behaupten, dass ihr Grab leer ist, ihr Tod und ihre Beerdigung nur inszeniert waren, um ihren Vampirismus zu vertuschen, und dass Camille Monfort heute, im Alter von 154 Jahren, noch in Europa lebt.
Wenn ihr den Soledade-Friedhof in Belém besucht (was zugegebenermaßen unwahrscheinlich ist), dann vergesst nicht, an ihrem Grab haltzumachen und eine Rose daraufzulegen. Wundert euch nicht, wenn sich die Rose am nächsten Tag in Blut verwandelt hat.
Angesichts der vielen Details und der sich daraus ergebenden Auswirkungen fragten sich einige Leute, ob diese lyrische Sängerin wirklich existiert und ob ihre Geschichte wahr sein könnte.
Wie so oft bei Dingen, die im Internet veröffentlicht werden, ist es besser, wenn man sich mit Meinungen zurückhält. In diesem Fall ist es eine Tatsache, dass die faszinierende Geschichte nichts weiter als ein Märchen ist. Um es ganz offen zu sagen: Das Mädchen hat in der realen Welt nicht existiert.
Laut Historikern, die zu dieser Geschichte befragt wurden, gibt es keine Aufzeichnungen über eine Camille Montfort in den Annalen der damaligen Zeit. Wenn sie wirklich so berühmt und weltweit anerkannt gewesen wäre, müsste es eine Menge Informationen über sie geben, doch eine kurze Suche führt zu null Ergebnissen.
Darüber hinaus erwähnen die zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften von Pará aus jener Zeit nicht einen ihrer Besuche oder Auftritte im Nationaltheater. Tatsächlich war das Theater zu dieser Zeit renoviert und geschlossen, sodass in dem Zeitraum, in dem sie auf Tournee gewesen sein soll, niemand dort auftreten konnte. Zwar lässt sich nachweisen, dass berühmte Künstler in Belém auftraten, jedoch ist es unmöglich, dass dies geschah, ohne dass die lokale Presse darüber berichtete. Das sehr rege gesellschaftliche Leben in der Stadt gab Anlass zu mehreren sozialen Kolumnen, und selbst ein kurzer Besuch wäre den Medien nicht entgangen.
Wie bereits erwähnt, erlebten die beiden größten Städte im Amazonasgebiet, Belém und Manaus, zu Beginn des Jahrhunderts dank des Kautschukbooms eine rasante Entwicklung. Dieser machte viele Menschen reich. Dies ermöglichte es den Städten, sich zu modernisieren und ein überschwängliches kulturelles Leben zu entfalten. Die Tatsache, dass es mitten im Amazonasgebiet exquisite Theater gab, zog auch Künstler an, die diese Region des Landes besuchen wollten.
Die Einfügung berühmter Persönlichkeiten aus dem gesellschaftlichen Leben von Belém do Pará zu jener Zeit verleiht der Fiktion eine gewisse Glaubwürdigkeit. Der Name Francisco Bologna lässt uns die Augenbrauen hochziehen, denn er war tatsächlich eine bekannte Persönlichkeit in der Stadt.
Er war der Erbauer des sogenannten Bologna-Palasts, eines Herrenhauses in Belém do Pará, in dem es angeblich spukt.
Was das angeblich 1901 von einem englischen Studio aufgenommene Bild von Camille Montfort betrifft, so gibt es keine Informationen, die seinen Wahrheitsgehalt bestätigen könnten. Es ist heutzutage recht einfach, Fotos zu „bearbeiten” und sie so zu verändern, dass sie alt aussehen. Das fragliche Studio in der Baker Street 55 hat zwar tatsächlich existiert, doch dieser Rahmen mit Adresse kann leicht im Internet gefunden und über ein neueres Foto geklebt werden, das so verändert wurde, dass es authentisch aussieht.
Das betreffende Studio wurde in den 1940er Jahren bei Luftangriffen auf die britische Hauptstadt zerstört. Nach dem Konflikt verschwanden die Kundenunterlagen und von diesem Foto sind keine Negative mehr vorhanden.
Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass die Person auf dem Foto angeblich ein Smartphone in der Hand hält. Einige gehen davon aus, dass es sich dabei um eine Art Visitenkartenhalter handelt, ein zu dieser Zeit recht gängiger Gegenstand.

Es sieht jedoch aus wie ein nagelneues Smartphone direkt aus dem Laden.
Ein weiteres Detail, das der Erzählung widerspricht, ist, dass es auf dem Friedhof von Soledade weder einen Grabstein noch ein Grab mit dem Namen Montfort gibt. Einige Neugierige besuchten den Friedhof und fragten nach, erhielten aber keine Auskünfte. Einige gaben sich damit nicht zufrieden und suchten sogar unter den Grabsteinen nach dem Grab der Sängerin. Sie fanden jedoch keine Hinweise auf das in der Geschichte erwähnte Mausoleum.
Die Aufzeichnungen des Soledade-Friedhofs sind sehr vollständig und ordentlich geführt. Nirgends wird die Beerdigung einer Frau namens Camille Montfort oder ihr Grab auf dem Friedhofsgelände erwähnt. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass das Register manipuliert wurde oder das Grab einer Ausländerin, geschweige denn einer Berühmtheit, übersehen wurde.
Vor diesem Hintergrund scheint es angemessen zu behaupten, dass all dies nur erfunden ist. Wenn dem so ist, woher kommt dann diese Geschichte und zu welchem Zweck wurde sie erfunden?
Die rätselhafte Biografie einer eigenwilligen Sängerin aus Frankreich, die sich im 19. Jahrhundert für das Frauenwahlrecht einsetzt und mit ihrem freigeistigen Verhalten die konservative Gesellschaft von Pará schockiert, klingt wie eine erfundene Geschichte. Und tatsächlich ist sie Teil des Buches Après la pluie de l’après-midi (zu Deutsch etwa: „Nach dem Regen am Nachmittag”) von Bosco Chancen, einem Schriftsteller aus Belém.
Der im Stil der Schauerromantik geschriebene Roman fügt sich nahtlos in das tropische Klima und die Paläste der Stadt Belém, die realen Personen, amazonischen Legenden, die Romantik und den Vampirismus ein.
Wahrscheinlich hat der Autor Bosco Chancen oder jemand aus seinem Umfeld die Gelegenheit genutzt, das Gerücht in den sozialen Medien zu verbreiten, um Aufmerksamkeit für seine Figur zu erzeugen. Eine clevere Methode, um Leser für sein Werk zu gewinnen.
Nicht alles ist so, wie es scheint, aber die Geschichte ist trotzdem gut.