Blanche Monnier war eine Schönheit. Umschwärmt. Begehrt. Wie eine Prinzessin aus dem Märchenbuch. Sie war aber kein Rapunzel. Schneewittchen. Dornröschen. Die junge Französin hatte nicht das Glück, aus einem Alptraum wach geküsst zu werden. Sie fand sich wieder als furchtbarer Schatten ihrer selbst. Und erkannte sich vermutlich lange schon nicht mehr.
Blanche, 1849 in Poitiers im Westen Frankreichs geboren, wurde entsorgt, als sie Mitte zwanzig war. Ausgelöscht, ihre Pläne, Hoffnungen, Pläne, Träume. Man nahm ihr komplett das Leben. Schreckliches wurde ihr angetan.
Sechsundzwanzig Jahre verbrachte sie eingesperrt in einem Zimmer in ihrem Elternhaus in der Rue de la Visitation in Poitiers, einer charmanten Stadt, die am Fluß Clain liegt. Und ihre Mutter, ihr Bruder, die Hausangestellte, die Blanche mit Notwendigstem versorgte, sahen dabei zu, wie sie sie verdörrte, verfiel, zu einer Kreatur wurde, deren Spiegelbild entsetzte. Blanche erblickte kein Sonnenlicht, keine Blume, keinen Baum, keinen Himmel. Sie war ganz allein. Und der Prinz, der die Prinzessin rettet, blieb ein Spuk in einem Märchenbuch.
Spuk in einem Märchenbuch
Blanche, ein schüchternes, bildhübsches Mädchen mit distanzierter Beziehung zur dominanten Mutter Louise, wuchs in einer sehr wohlhabenden, katholisch-konservativen und gesellschaftlich höchst angesehenen Aristokratenfamilie auf. 1875 verschwand Blanche aus der Öffentlichkeit. Sie war sechsundzwanzig und schwer verliebt in einen Mann, der ihren Eltern, Louise und Charles-Émile Monnier de Marconnay, zutiefst missfiel. Victor Cameil, ein Anwalt, deutlich älter als Blanche, zudem auch noch Republikaner, galt als partout nicht standesgemäß. Vermutlich gab es heftige Dispute. Und dann war Blanche plötzlich einfach weg. Niemand sah sie, niemand hörte von ihr. Wie vom Erdboden verschluckt. Nach England sei sie gegangen, soll ihre Mutter auf drängende Anfragen hin erzählt haben. Verstorben sei sie, wollen einige Leute gehört haben. Schwanger geworden entgegen jeglicher Etikette, munkelte man hier und da.
Was der Verlobte getan hat, um Licht in die Sache zu bringen, bleibt unklar. Er wird belogen, ausgegrenzt worden sein. Vielleicht war er schwach. Gab zu schnell auf. Vergaß die schöne Blanche? Man weiß es nicht.
Man weiß auch nicht, wie Blanche Monnier überhaupt war. Welche Leidenschaften, Vorlieben sie hatte. Ging sie gern spazieren? Traf sich mit Freundinnen? Las sie Jules Vernes, Victor Hugo, Alexandre Dumas? Malte sie Aquarelle? Schrieb sie heimlich romantische, gar revolutionäre Gedichte? Liebte sie Mode, Tanz, interessierte sie sich für Politik?
Bei lebendigem Leib verrottet
Nichts ist bekannt. Nur, wie schön sie war. Und dass sie über fünfundzwanzig Jahre eingekerkert war und bei lebendigem Leib verrottete. Bis letztendlich im März 1901 der Staatsanwaltschaft ein anonym verfasstes Schreiben zukam. Da hieß es:
Ich beehre mich, Sie über ein außergewöhnlich schwerwiegendes Ereignis zu informieren. Ich spreche von einer Jungfrau, die in Madame Monniers Haus eingesperrt ist, halb verhungert ist und seit 25 Jahren auf einem faulen Müll lebt – mit einem Wort, in ihrem eigenen Dreck.
Wer das geschrieben hat, wurde nie herausgefunden. Vermutlich eine(r) vom neu eingestellten Personal, zutiefst schockiert über die Entdeckung. Die Hausangestellte, die in all den Jahren neben der Mutter und Bruder Marcel, mittlerweile ein renommierter Anwalt,- der Vater starb 1882 – , als einzige Kontaktperson und damit Mitwisserin Zugang zur Kammer der Eingesperrten hatte, war kurz zuvor in Pension gegangen. Mit ihrem Stillschweigen über die unaussprechliche Angelegenheit im hochherrschaftlichen Hause hatte sie Louise Monnier natürlich einen Bärendienst erwiesen. Niemand fragte mehr, die Zeit verrann, und Blanche verwelkte an Leib und Seele, ohne Hilfe, ohne Hoffnung.
Die Staatsanwaltschaft schickte Polizeibeamte, die der, falls denn wahr, ungeheuerlichen Sache nachgehen sollten. Wohl zur Empörung von Louise Monnier, die sich über die Unverfrorenheit echauffierte, ihr Haus durchsuchen zu wollen, überhaupt, die Unterstellung zu wagen, dass sie und ihr Sohn…
Als die Polizei am 23. Mai 1901 die Tür im dritten Stock der vornehmen Monnier-Villa, Hausnummer 21, öffnete, fand sie Blanche in einem Zustand vor, der sie auf schier unerträgliche Art schockierte. Es war ein grauenvoller, zutiefst erschütternder Anblick, der jedem sensiblen Gemüt Tränen des Mitleids in die Augen treiben musste. So unmenschlich, so verabscheuungswürdig war das Bild, das sich den entsetzten Männern bot. Im Bericht stand:
„Wir haben sofort befohlen, das Flügelfenster zu öffnen. Dies geschah mit großen Schwierigkeiten, denn die alten dunklen Vorhänge fielen in einem schweren Staubschauer herunter. Um die Fensterläden zu öffnen, mussten sie aus den rechten Scharnieren entfernt werden. Sobald Licht in den Raum kam, bemerkten wir hinten auf einem Bett liegend, Kopf und Körper von einer abstoßend schmutzigen Decke bedeckt, eine Frau, die als Mademoiselle Blanche Monnier identifiziert wurde. Die unglückliche Frau lag völlig nackt auf einer faulen Strohmatratze. Überall um sie herum bildete sich eine Art Kruste aus Exkrementen, Fleischfragmenten, Gemüse, Fisch und morschem Brot. Wir sahen auch Austernschalen und Käfer über Mademoiselle Monniers Bett laufen. Die Luft war so unatmbar, der Geruch, den der Raum ausstrahlte, war so hoch, dass es uns unmöglich war, länger zu bleiben, um mit unseren Ermittlungen fortzufahren. “
Es stank, schauderte, schockierte
Das grausige Foto von Blanche Monnier, entstanden unmitttelbar, nachdem man sie gefunden hatte, zeigt ein menschliches Wrack im Extrem. Der Zustand der mittlerweile 52jährigen Frau, die einstmals so wunderschön war, dass sie von begnadet großer Künstlerhand auf Leinwand hätte verewigt werden müssen, ist so erbärmlich, so abartig entsetzlich, dass man nur völlig fassungslos darauf starren kann. Voller Mitgefühl, voller Verachtung den Menschen gegenüber, die ihr das antaten.
Blanche, die nur unartikulierte Laute von sich gab, wurde ins Krankenhaus gebracht und nahm innerhalb kürzester Zeit zehn Kilo zu. Zurück ins wirkliche Leben kehrte sie nie wieder, sie war komplett gebrochen. In einer Nervenheilanstalt in Bois verbrachte sie den Rest ihres Daseins. 1913 starb sie.
Ihre Mutter Louise und ihren Bruder wurden im Mai 1901 direkt verhaftet, nachdem die Polizei Blanche befreit hatte. Louise Monnier, völlig aufgebracht angesichts des gesellschaftlichen Skandals, dem sie sich ausgesetzt sah, behauptete, ihre Tochter sei psychisch krank und gewalttätig gewesen. Der Bruder, ein stadtbekannter Wohltäter, bestätigte das, betonte, er selbst hätte seine Schwester längst schon in eine Heilanstalt gebracht, wäre nicht die Mutter „aus Liebe zu Blanche“ dagegen gewesen.
Die nunmehr 76jährige Louise Monner starb nach nur 15 Tagen an einem Herzinfarkt im Gefängnis. Ihre letzten überlieferten Worte“ „Ah, meine arme Blanche!“
Einsicht? Bedauern? Selbstmitleid?
Wahrhaftig Einsicht? Bedauern? Oder Selbstmitleid? Gleichwohl, bei ihrer Beerdigung fielen wüsteste Beschimpfungen. Die Leute waren durch die Reihen weg angewidert von dem Abscheulichen, Abartigen, das sich in der vornehmen Villa zugetragen hatte.
La Séquestrée de Poitiers titulierte die Presse Blanche, in deutschsprachigen Zeitungen nannte man sie die Eingekerkerte von Poitiers. Europaweit und sogar in Australien wurde über den Fall berichtet. Das entsetzliche Foto von Blanche, das sie im Mai 1901 zeigt, wurde vor der Veröffentlichung dezent bearbeitet, schockierte aber trotzdem derart, dass der Bruder mehrfach von Menschenmengen bedroht wurde. Auch politische Auswirkungen zeigten sich: Die Royalisten ergriffen Partei für die adeligen Monniers, rechtfertigten deren Verhalten damit, dass sie Blanche hätten schützen wollen vor ihrem Wahnsinn. Die Republikaner sprachen von der „scheinheiligen, verkommenen Moral“ des royalistischen Großbürgertums.
Marcel Monnier, der jegliche Mitschuld von sich schob, wurde nach der Vernehmung von 106 Zeugen zu fünfzehn Monaten Gefängnis verurteilt, legte aber erfolgreich Berufung ein. Unterlassene Hilfeleistung als Strafbestand wurde in Frankreich erst 1941 eingeführt, insofern war er juristisch nicht zu belangen. Immerhin bezahlte er mit dem Verlust seines Rufes und Einsamkeit: Ehefrau und Tochter verließen ihn und gingen (angeblich) in ein Kloster. Zuvor hatte der Verlobte der Tochter sich aufgrund der ganzen Alptraum-Enthüllung von ihr offiziell losgesagt. Marcel starb 1913, wie auch seine Schwester.
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