Alice

Alice

Leere, atemlose, ohrenbetäubende Isolation. Solange ich mich erinnern kann, war ich in einem einzigen Raum gefangen. Ich war so jung und doch alt genug, um zu wissen, dass ich nicht auf dem Dachboden hätte eingesperrt werden dürfen. Ich hatte eine Matratze auf dem Boden, eine Toilette, eine Badewanne und zerlumpte Stofftiere, die mir ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln sollten.

Meine Tage verbrachte ich damit, auf und ab zu gehen, Lieder zu singen, die ich mir selbst ausgedacht hatte, und in die Wände zu ritzen. Anfangs ritzte ich Bilder von mir, wie ich mit anderen Kindern spielte. Es war eine Herausforderung, sich vorzustellen, wie sie aussahen, aber ich war mit meinem eigenen Spiegelbild in den Wassergläsern gesegnet, die durch den Schlitz gereicht wurden.

Zu welchem Zweck mein Wärter mich festhielt, war unmöglich zu sagen. Manchmal sprach er durch den kleinen Schlitz mit mir, aber nur, wenn ich schlief, zumindest dachte er das. Er las mir Geschichten vor, erzählte mir von Alice und ihren Erlebnissen im Wunderland, und obwohl ich nicht wusste, wer sie war, begann ich zu glauben, dass sie auch meine Freundin war.

Wenn Kinder älter werden, sollen sie weiser werden. Sie sollen unterscheiden können, was real ist und was nicht. Irgendwann lässt ihre Fantasie nach, und sie fallen in einen Rhythmus der Routine, der Arbeit und des Essens und des Zusammenseins mit ihren Lieben. Zumindest weiß ich das jetzt, aber als ich noch lebte, wusste ich das nicht.

Mit der Zeit hielt ich an der Vorstellung von Alice fest, und schließlich wurde sie real. Ich wünschte, ich könnte euch sagen, dass Alice meine Freundin war. Ich glaubte wirklich, dass sie es war. Sie begann, mich zuerst nachts zu besuchen, vielleicht angeregt durch die Erzählungen des seltsamen Mannes. Sie stand am Rande meines Bettes und flüsterte mir schreckliche Dinge zu.

Irgendwann wurde sie so real, dass sie mich berühren konnte. Vielleicht habe ich sie in meine Realität manifestiert, vielleicht war ich aber auch viel kränker, als ich dachte. Alice begleitete mich bei meinen Liedern, sie war von Natur aus talentiert. Sie konnte jedes Lied nachsingen, ohne dass man ihr den Text erklären musste, und ihre Stimme harmonierte perfekt mit meiner. Sie bürstete mein Haar, wobei Strähnen büschelweise herausfielen. Offenbar sah ich ohne Haare hübscher aus. Also bürstete Alice und bürstete. Irgendwann konnte ich meine Kopfhaut in meinen Wassergläsern sehen.

Als mir die Haare ausgingen, sagte sie mir, dass die dunklen Flecken auf meiner Haut der Grund dafür seien, dass ich eingesperrt wurde. Sie sagte, wenn ich sie aus meiner Haut herauskratzen würde, würde ich frei sein. Ihr müsst verstehen, dass ich ihr als einziger Freundin jedes Wort glaubte, das sie sagte. Freunde sagten immer die Wahrheit, auch wenn sie ihnen wehtat, nicht wahr? Also tat ich, was sie vorschlug, denn ich wollte nichts mehr, als frei zu sein.

Und zu meinem Erstaunen hatte sie recht! Obwohl meine Haut brannte, war mein Herz voller Hoffnung, dass ich eines Tages den vier Wänden, aus denen meine Welt bestand, entkommen könnte. Als die roten Tropfen fielen, öffnete sich zum ersten Mal in meiner wachen Erinnerung die Tür.

Der fremde Mann war nicht mehr gesichtslos. Er stand da mit einem dicken, buschigen Bart und dicken Augenbrauen. Seine Nase war ebenso unauffällig wie sein versteckter Mund. Sein Bauch wölbte sich, als hätte er genug für uns beide gegessen. Er tadelte mich dafür, dass ich auf Alice hörte, er ermahnte mich, dass Alice nicht real war, aber sie betonte, dass sie es sehr wohl war.

Meine Wunden heilten und Alice erklärte mir, dass es nicht ausreicht, frei zu sein. Ich fragte, was sie meinte. Sie sagte mir, ich sei gar nicht auf dem Dachboden gefangen, nein, ich sei in meinem Körper gefangen. Die Haare, die Haut, das Blut. Das alles war ein Käfig, der mich von ihr und von der Freiheit fernhielt. Wenn ich meiner Haut entkommen könnte, würde ich in die wirkliche Welt eintreten, in ihre Welt, wo wir für immer spielen könnten.

Ich fragte sie, wie ich meiner Haut entkommen könnte, wo sie doch alles war, was ich je gekannt hatte. Wie könnte ich ohne meinen Körper lebendig sein? Sie sagte mir, es gäbe viele Möglichkeiten, mir selbst zu entkommen. Ich könnte mir die Zunge abbeißen. Ich könnte ein spitzes Stück vom Bodenbrett aufstemmen und es in mein schlagendes Herz versenken.

Ich begann zu schluchzen, weil ich wusste, dass ich niemals stark genug sein würde, um eines dieser Dinge zu tun. Ich konnte mir nicht einfach die Haut abziehen und ein Geist werden wie sie. Das Leiden an meinem Elend war mir vertraut, aber der Gedanke, mir die Zunge abzubeißen, schien mir unmöglich.

Aber Alice versicherte mir, dass alles in Ordnung sei. Sie sagte: „Ich werde es für dich tun.“

Ich trocknete meine Augen und schniefte. „Aber wie?“

Sie kicherte und antwortete: „Ich werde mit dir den Platz tauschen.“

Mir blieb vor Schreck der Mund offen stehen. Was für eine gute Freundin war sie doch, die den Schmerz ertrug, den ich nicht ertragen konnte. Ich wollte ihr nicht ins Gesicht sehen. Die Scham, dass ich sie zu dem schlimmsten Schicksal verurteilte, das man erleiden kann, war zu groß, um sie zu ertragen. Ich sollte ihre Freundin sein. Aber mein Leiden war größer als meine Selbstlosigkeit.

„Würdest du?“

Sie nickte. Ich hob mein Kinn unter ihrern Fingerspitzen und sah sie an. Sie streckte ihren kleinen Finger aus und machte eine Geste in meine Richtung. Ich legte meinen kleinen Finger um ihren, und sofort tauschten wir die Plätze. Ich wurde zu einem Geist, und sie wurde zu meiner Hülle. Meine Augen konnten nicht glauben, was geschah. Ihr Haar hatte zu wachsen begonnen, Strähnen, die glänzend und schön waren, wo ich vor wenigen Augenblicken noch keine hatte. Ihre Haut war verheilt, es gab keine Narben mehr von den vielen Nächten, in denen sich meine Nägel in sie gegraben hatten. Im Nu wurde ich neidisch auf die Person, die sie war, die Version von mir, die ich hätte sein sollen.

In dieser Nacht, als sie zu Bett ging, kam der Fremde an die Tür, um Geschichten zu erzählen. Alice schlich sich durch den kleinen Schlitz und begann in einer Sprache zu flüstern, die ich noch nie gehört hatte. Der Fremde öffnete wie in Trance die Tür und ließ Alice frei. Als sie ging, winkte sie mir zum Abschied zu, die Tür stand für sie weit offen. Ich versuchte, ihr zu folgen, aber die Tür schloss sich wieder. Ich konnte nicht entkommen. Ich wurde auf dem Dachboden zurückgelassen, ein Geist meines alten Ichs. Ich wurde zu Alice.

Baylee Marion

Baylee Marion

Baylee Marion ist eine in Toronto lebende Autorin mit einer Leidenschaft für Horror, Fantasy und Romantik. Nach ihrem Bachelor of Arts in Creative Industries an der Toronto Metropolitan University hat sie Artikel im Ottawa Life Magazine und Fotos in PhotoVogue veröffentlicht und arbeitet nun daran, sich als Autorin zu etablieren. Web: https://www.bayleemarion.com

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