Wie Poe durch Dupin die Literatur für immer veränderte

Obwohl es in der Literatur seit Jahrhunderten nur so von cleveren Problemlösern wimmelt, von Trickbetrügern über geläuterte Diebe bis hin zu weisen Männern und Polizeipräfekten, versetzte Edgar Allan Poes Detektivgeschichte „Die Morde in der Rue Morgue“, als sie 1841 erschien, die literarische Welt in Erstaunen. In einem Haus in der Rue Morgue (einer fiktiven Straße in Paris) ist ein grausamer Doppelmord geschehen. Mehrere Zeugen bestätigen, dass sie mehrere Stimmen gehört haben, aber niemand kann sich darauf einigen, welche Sprache einer der Sprecher verwendet haben könnte. Es gibt mehrere Hinweise, von denen einer rätselhafter ist als der andere. Die Polizei ist ratlos. Doch C. Auguste Dupin, ein Liebhaber seltener Bücher, löst das Rätsel zu Hause, nachdem er die Details in der Zeitung gelesen hat, und wird so zur ersten echten Detektivfigur der Literatur und löst damit eine Revolution aus, in dem er ein Genres definiert. Er taucht in zwei weiteren Geschichten auf: „Das Geheimnis der Marie Rogêt“,  und „Der entwendete Brief“ von 1844.

Wie der Literaturkritiker A. E. Murch schreibt, handelt es sich bei der Detektivgeschichte um eine Erzählung, bei der „das Hauptinteresse in der methodischen Entdeckung der genauen Umstände eines mysteriösen Ereignisses oder einer Reihe von Ereignissen mithilfe rationaler Mittel liegt„. Der Kritiker Peter Thoms führt dies weiter aus und definiert den Kriminalroman als „Chronik einer Suche nach Erklärung und Lösung“ und fügt hinzu:

„Eine solche Fiktion gestaltet sich typischerweise als eine Art Rätsel oder Spiel, als ein Ort des Spiels und des Vergnügens sowohl für den Detektiv als auch für den Leser.“

Der wohlhabende Dupin ist ein Sesseldetektiv, der Rätsel löst, weil er es kann, indem er eine Methode  der „Folgerung“ anwendet, bei der er im Grunde „über den Tellerrand hinausschaut“ (und es ist gut, dass er das tut, sonst würde niemand diese Verbrechen lösen; der Mörder in „Die Morde in der Rue Morgue“ entpuppt sich als entlaufener Orang-Utan. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass niemand sonst darauf kommen würde). Er teilt seine Schlussfolgerungen seinem guten Freund, dem anonymen und oft verblüfften Ich-Erzähler mit.

Hätte Poe nicht die Konventionen festgelegt, die wir als Kennzeichen der modernen Detektivgeschichte kennen, hätten andere wahrscheinlich nicht lange danach das Gleiche getan. Die Literatur war auf dem Weg zu dieser Entdeckung; sicherlich gab es eine lange Reihe von Figuren, die ähnlich vorgingen, gestohlene Gegenstände aufspürten und unmögliche Rätsel knackten, und wie Dupin taten sie dies als Privatleute und nicht als Angestellte des Staates. Voltaire schrieb 1747 die philosophische Novelle Zadig oder das Schicksal zum Thema Problemlösung, in der es um einen weisen jungen Mann in Babylonien geht, dessen Wissen ihn zwar in Schwierigkeiten bringt, ihn aber letztlich oft rettet. In William Godwins 1794 erschienenem Roman Die Abenteuer des Caleb Williams oder: Die Dinge wie sie sind, einer vernichtenden Anklage gegen die Fähigkeit des so genannten Justizsystems, Leben zu ruinieren, werden staatlich sanktionierte Ermittler zugunsten von nicht-traditionellen Problemlösern desavouiert. 1819 schrieb der deutsche Schriftsteller E. T. A. Hoffmann Das Fräulein von Scuderi, wo eine neugierige Frau namens Madeleine von Scuderi (die man als Vorläuferin von Miss Marple betrachten könnte) eine gestohlene Perlenkette findet.

Diese Aufzählung wäre unvollständig ohne Eugène-François Vidocq, einen Kriminellen, der sich zum Kriminologen wandelte und von 1775 bis 1857 lebte. Er gründete und leitete die erste nationale Polizei Frankreichs, die Sûreté nationale, sowie die erste private Detektei Frankreichs. Sein Leben inspirierte zahllose (verwegene) Adaptionen, darunter auch eine amerikanische, die 1828 in Burton’s Gentleman’s Magazine unter dem Titel „Unpublished passages in the Life of Vidocq, the French Minister of Police“ veröffentlicht wurde und die Poe sehr wohl gelesen haben könnte. Interessanterweise gibt es in dieser Geschichte eine Figur namens „Dupin“.

Der berühmte Drehbuchautor Brander Matthews schrieb:

„Die wahre Detektivgeschichte, wie Poe sie sich vorstellte, hat nicht das Rätsel selbst zum Ziel, sondern die aufeinanderfolgenden Schritte, die den analytischen Beobachter in die Lage versetzen, das Problem zu lösen, das als jenseits menschlicher Möglichkeit abgetan werden könnte.“

In der Tat könnte Dupins größter Einfluss außerhalb des Kriminalromans und innerhalb des breiteren, späteren Feldes der Literaturkritik liegen. Dupins Fähigkeit, Hinweisen eine außergewöhnliche Bedeutung zu entlocken, macht ihn zum ersten Semiotiker, der mehr als ein Jahrhundert vor Ferdinand de Saussure, der 1966 sein Werk zu diesem Thema veröffentlichte, die Beziehung zwischen Zeichen, Signifikanten und Signifikaten aufklärte – vor allem, weil Dupin seine Hinweise eher über die Linguistik als über physische Objekte findet. In „Die Morde in der Rue Morgue“ zum Beispiel leitet er die gesamte Lösung aus zwei Worten ab, die angeblich während des Verbrechens gesprochen wurden. („Auf diese beiden Worte [‚mon Dieu!‘]… habe ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf eine vollständige Lösung des Rätsels gebaut.“)

Dupins Einfluss auf die Geschichte des Kriminalromans kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schuf unter anderem den Archetyp des Gentleman-Detektivs, der im Goldenen Zeitalter des Kriminalromans in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so allgegenwärtig werden sollte. Jahre später schrieb Arthur Conan Doyle:

„Jede [von Poes Detektivgeschichten] ist eine Quelle, aus der sich eine ganze Literatur entwickelt hat… Wo war die Detektivgeschichte, bevor Poe ihr Leben einhauchte?“

In der Tat konstruierte Doyle seinen Detektiv Sherlock Holmes als einen intellektuellen Nachfahren von Dupin, indem er Watson (der ebenfalls direkt von den Dupin-Geschichten als Freund/Erzähler/Chronist abgeleitet werden kann, Dupin zitieren ließ, als er zum ersten Mal Zeuge von Holmes‘ deduktivem Genie wurde.

»Klingt kinderleicht, wie Sie es erklären«, sagt Watson1887 zu Sherlock Holmes in der ersten gemeinsamen Novelle „Eine Studie in Scharlachrot“. »Sie erinnern mich an Edgar Allan Poes Dupin. Und ich habe immer geglaubt, dass solche Menschen nur in Geschichten vorkommen.«

Holmes äußert sich abfällig über dieses Lob: »Ihr Vergleich mit Dupin ist bestimmt als Kompliment gemeint«, erwiderte er. »Aber in meinen Augen war der Mann eine Flasche. Angeblich hat er nach fünfzehnminütigem Schweigen durch eine spontane Bemerkung herausgefunden, was in den Köpfen seiner Freunde vorging – ein angeberischer und billiger Trick. Er besaß zweifellos ein gewisses analytisches Genie, war aber keineswegs so phänomenal, wie Poe glaubte.«

Nun… bis auf die Tatsache, dass er es doch war. Holmes weiß es nicht, aber ohne Dupin hätte es ihn nicht gegeben.

Das geht hier nicht.