Silberlinge

Jim Butcher: Silberlinge (Die dunklen Fälle des Harry Dresden #5)

Jim Butcher hat mit den ersten vier Bänden der „dunklen Fälle des Harry Dresden“ die Vorlage geschaffen, nach der das gesamte Subgenre der „paranormalen Ermittler“ funktioniert. Er hat es etabliert und dann rigoros getestet. Im fünften Band, der im Original „Death Masks“ heißt und bei Blanvalet im Zuge der Neuveröffentlichung der ganzen Serie als „Silberlinge“ erschienen ist, perfektioniert Butcher seine Formel.

Die Geschichte hat alle erzählerischen Elemente, mit der die Fans dieser Serie vertraut sind, und einen Plot, der so komplex ist wie der von langen Fantasy-Romanen, deren Autoren sich selbst sehr ernst nehmen. Aber Butcher nimmt sich selbst eben nicht immer so ernst und schafft es gerade dadurch, eine beeindruckend ausgewogene Geschichte zu erzählen. Es gibt einen Grund, warum das hier der Markstein der Urban Fantasy ist. Und es gibt einen Grund, warum die Dresden-Files neben dem Herrn der Ringe jenes Werk sind, das nahezu inflationär kopiert wird.

Butcher ist hier so selbstbewusst in seinem kreativen Spiel, dass er die dümmste aller möglichen Prämissen – nämlich dass das Turiner Grabtuch gestohlen wurde -, für sich arbeiten lässt.

Dresden wird von einem zwielichtigen Priester namens Pater Vincent angeheuert, um das Grabtuch aufzuspüren, das von einer Diebesbande namens Kirchenmäuse in die Windy City gebracht worden ist. Es stellt sich heraus, dass das Leichentuch sowohl von Marcone, dem Boss der kriminellen Unterwelt Chicagos, als auch von den Denarianern gesucht wird, einer abscheulichen Ansammlung von dämonischen Bösewichten, die die latenten magischen Eigenschaften des Leichentuchs nutzen wollen, um gnadenlose Verwüstung anzurichten. Und als ob Dresden nicht schon alle Hände voll zu tun hätte, ist da noch der Krieg zwischen dem Weißen Rat und dem Roten Hof der Vampire, der seit dem Ende von Grabesruhe andauert. Dresden wurde von Ortega, einem Kriegsherrn des Roten Hofes der Vampire, zu einem Duell herausgefordert. Ortega behauptet, er wolle die Feindseligkeiten, die für keine der beiden Seiten gut sind, vorzeitig beenden. Aber natürlich hat er versteckte Hintergedanken. Er wäre kein vampirischer Überflieger, wenn er keine hätte.

„Silberlinge“ ist der Moment, in dem Butcher die „dunklen Fälle“ nicht nur als eine äußerst unterhaltsame Serie von Popcorn-Abenteuerromanen, sondern als ein vollendetes Fantasy-Universum verwirklicht. Dresden selbst wird als dreidimensionaler Charakter in seiner bisher überzeugendsten Darstellung präsentiert. Das Wiedersehen mit seiner Geliebten Susan, der Journalistin, die in Grabesruhe fast vom Roten Hof umgedreht wurde, verleiht ihm eine ganze Reihe von glaubwürdigen emotionalen Schwächen. Die zahlreichen Nebendarsteller der Serie sind beeindruckend gut ausgearbeitet. Wir sehen hier nicht alle von ihnen; Billy und seine Werwolfbande bleiben diesmal außen vor. Aber Dresdens persönliche Beziehungen spielen in der sich entfaltenden Geschichte eine ebenso wichtige Rolle wie die Handlung oder die Action, und auch der emotionale Anteil der Lektüre ist solide.

Die Handlung erlaubt es Dresden dieses Mal, genauso viel zu ermitteln wie zu kämpfen – gut, schließlich ist er ein Detektiv -, während in den letzten Büchern die Action im Mittelpunkt stand und der Detektivanteil heruntergespielt wurde. An einer Stelle geht Harry sogar mit Abendgarderobe undercover, was dem Buch eine süße (und großspurig angedeutete) James-Bond-Hommage verleiht. Und schließlich ist es schön zu sehen, dass Dresden einige rein menschliche Momente hat, in denen er ausrastet und einfach die Nase voll hat von allem, was auf ihn zukommt. In der wohl emotional befriedigendsten Szene verprügelt Dresden einen Mann mit einem Baseballschläger. Wenn man gejagt, geschlagen, mit Zaubersprüchen angegriffen, beschossen, gefesselt und gefoltert wird, ist man wahrscheinlich bereit, selbst ein bisschen härter zu agieren. Wenn man gegen Dämonen und ihre Schergen kämpft, ist es durchaus an der Zeit, die politische Korrektheit an der Tür abzugeben.

Nach längerer Abwesenheit taucht hier Gentleman Johnnie Marcone wieder auf. Wir erfahren in diesem Band sein großes Geheimnis – natürlich erst, nachdem er Harry geholfen hat, einen gefallenen Denarier zu bekämpfen. Es wird eine Wendung sein, die Harry dazu veranlasst, ihn nicht mehr hassen zu können.

Das ist wichtig, denn auch wenn er ein Gauner ist, ist Marcone immer noch ein Mensch. Er ist kein Monster, und obwohl er kein aufrechter Bürger ist, ist er ein Beispiel dafür, was die Menschen von den Monstern unterscheidet. Monster tun Böses, weil es in ihrer Natur liegt, sie können nicht anders, als monströs zu sein. Menschen hingegen entscheiden sich dafür, schlechte Dinge zu tun. Normalerweise haben sie Gründe für diese Entscheidungen – und wie bei Marcone können das oft sehr wertvolle Gründe sein.

Harry weiß genau, wie man Entscheidungen trifft. In Sturmnacht entscheidet er sich für den richtigen Weg, auch wenn er sich dadurch von Murphy entfremdet und in den Augen des Aufsehers Morgan Misstrauen erregt. In Wolfsjagd ist die Verlockung des Hexenwolf-Talismans fast zu groß, als dass er sie ertragen könnte. In Grabesruhe beschließt er natürlich, Susan zu retten, auch wenn dies einen Krieg zwischen dem Weißen Rat und dem Roten Hof zur Folge hat. Und in Feenzorn lehnt Harry es ab, zum Ritter des Winters gekürt zu werden.

Doch nun wird Harry von den Denariern in Versuchung geführt. Als Gegenleistung dafür, dass er eine Münze berührt und so einen gefallenen Engel einlässt, erhält der menschliche Wirt nahezu Unsterblichkeit und immense Macht. Wie viele Figuren in Silberlinge beobachten, spielt Harry den Helden, weil er sich selbst nicht traut, sich von der schwarzen Magie fernzuhalten. Indem er sich selbst in Gefahr bringt und sich zwingt, das „Richtige“ zu tun, stellt Harry sicher, dass er auf dem rechten Weg bleibt. Während der Harry, den wir kennen, nicht von einer schwarzmagischen Münze in Versuchung geführt werden könnte, gibt es jedoch einen Harry, bei dem genau das zuträfe. Da Jim Butcher es liebt, das Leben von Harry Dresden kompliziert zu machen, wird in einer Einschubszene am Ende des Buches deutlich, dass Harry noch lange Zeit Probleme mit Denariern haben wird. Und wer die Serie kennt, der weiß natürlich, dass genau das zutrifft.

Die Denarier sind ein interessantes Paradoxon. Sind sie Monster oder sind sie Menschen? Die Ritter des Kreuzes sind dazu da, ihnen Rettung zu bieten, auch denen, die freiwillig mit den Gefallenen kollaborieren. Harry glaubt nicht, dass Kollaborateure Rettung verdienen, geschweige denn, dass man sie am Leben lassen wollte. Die Ritter allerdings sehen die denarianischen Heerscharen als Opfer, als Sünder, die in die Irre geführt wurden; Harry sieht in ihnen sowohl den gefallenen Engel als auch den menschlichen Wirt.

Darin liegt die Frage: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Jeder hat darauf eine andere Antwort. In einer Welt, die scheinbar nicht übernatürlich ist, müssen wir nicht entscheiden, wer als Mensch gilt. Auch deshalb sind Fantasywelten so wichtig, denn hier drängen sich diese Probleme auf und führen zu philosophischen Gedanken.

Nehmen wir zum Beispiel das Archiv. Auf der einen Seite ist es die Verkörperung allen menschlichen Wissens. Um zu zeigen, dass Wissen Macht bedeutet, schaltet das Archiv mehrere Vampire in Rekordzeit aus. Auf der anderen Seite handelt es sich bei ihr um ein siebenjähriges Mädchen. Trotz all ihres Wissens und der damit verbundenen Verantwortung verhält sich das Archiv gelegentlich gemäß des Alters des Körpers, den es bewohnt. Das Mädchen hat eine Vorliebe für Harrys Katze Mister. Es mag Kekse und findet, dass Kinder eine geregelte Schlafenszeit haben sollten.

Und dann gibt Harry ihr auch noch einen Namen. Es scheint eine typische, unbedachte Dresden-Laune zu sein. Aber tatsächlich ist es die wichtigste Szene des Buches. Mit einer einzigen Handlung vermenschlicht Harry das Archiv zu Ivy. Das mag gar keine bewusste Entscheidung des Autors gewesen sein. Vielmehr ist es für Harry eine Selbstverständlichkeit, Menschen wie Menschen zu behandeln, unabhängig davon, wie viel Magie sie in sich tragen.

Pulp Matters

Pulp Matters

Hat sich in Studien durch die Weltliteratur arbeiten müssen, fand schließlich mehr Essenz in allem, was mit Krimi und Horror zu tun hat.

Alle Beiträge ansehen von Pulp Matters →

Das geht hier nicht.

Entdecke mehr von Phantastikon

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen