Charlie Chaplin war auf eine Art und Weise berühmt, wie es noch niemand zuvor war; wahrscheinlich war seitdem niemand wieder jemals so berühmt. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität galt seine schnurrbärtige Interpretation des „Tramp“ als das bekannteste Bild der Welt.
Sein Name stand an erster Stelle in den Diskussionen über das gerade aufkommende neue Medium „Film“ als populäre Unterhaltung und in seiner Verteidigung als eigenständige Kunstform – eine kulturelle Position, die danach nur noch von den Beatles eingenommen wurde, deren eigene, die Popkultur bestimmende Ära, der Chaplins allerdings nie entsprach. Er kommt dem, was man unter dem universellen kulturellen Maßstab des 20. Jahrhunderts versteht, am nächsten.
Filmhistoriker werden nicht müde zu betonen, dass Chaplins Massenpopularität der Art und Weise geschuldet war, wie der Tramp einen mittellosen Jedermann darstellte. Seine Filme verwandelten Hunger, Faulheit und das Gefühl, unerwünscht zu sein, in eine Komödie. Er war ein Einzelkünstler, ein Darsteller mit einer unheimlichen Beziehung zur Kamera, der den frühen Teil seiner Karriere damit verbrachte, seine Bildschirmpersönlichkeit zu verfeinern und den übrigen Teil davon zu dekonstruieren.
Hinzu kommt die Frage nach Chaplins tatsächlichem Verhältnis zum Zeitgeist – und die Tatsache, dass seine Popularität mehrere Perioden eines tiefgreifenden kulturellen Wandels überlebte. Seine Filme nach der Stummfilm-Ära – zu denen seine beiden beliebtesten Filme „Moderne Zeiten“ und „Der große Diktator“ gehören – reflektieren seine eigenen Einstellungen mehr als die Gefühle des damaligen amerikanischen Publikums. Sein reifes Werk ist bewusst künstlich angelegt und spielt in einer Welt, die noch nie zuvor aus Stücken der europäischen und amerikanischen Vergangenheit, Gegenwart, und sogar der antizipierten Zukunft zusammengesetzt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand versucht, eine konsistente Realität darzustellen. Mit seinen zarten Gesichtszügen und seinem sauberen Schnurrbart war der „Tramp“ allerdings nie mit einem echten Landstreicher, Flüchtling oder Goldsucher zu vergleichen. Ist es denn wirklich so, dass nichts das tägliche Leben des Publikums besser widerspiegelt als die bittersüßen, episodisch aufgezeichneten architektonischen Fantasien eines englischen Pazifisten? Die Antwort ist eine Kombination aus Ja und Nein.
Der erste Film mit dem „Tramp“ war „Kid Auto Races At Venice“, bekannt durch eine Vielzahl von alternativen Titeln, darunter „Kids‘ Auto Races“, „Kid Auto Races In Venice Beach“ und „The Pest“ (deutscher Titel: „Seifenkistenrennen in Venice“). Chaplins dritter Film wurde bereits am 7. Februar 1914 veröffentlicht – nur fünf Tage nach „Wunderbares Leben“. Die Branche bewegte sich in diesen Tagen schnell.
„Kid Auto Races“ ist eine freie Found-Footage-Komödie ohne vorheriges Skript, die als Wochenschau des Junior Vanderbilt Cup präsentiert wurde, einem echten Seifenkistenderby, das am 10. Januar dieses Jahres stattfand. Während die Kamerateams dabei sind, das Rennen aus verschiedenen Blickwinkeln einzufangen, versucht ein Gaffer – der Tramp – immer wieder, vor die Kamera zu kommen. Die ganze Sache wurde vor Ort improvisiert, wobei Chaplin seinen Charakter beibehielt; er weicht echten Rennfahrern nur knapp aus, wird von einem echten Polizisten angeschossen (der erste der vielen unfreundlichen Begegnungen des „Tramps“ mit der Polizei) und bekommt missbilligende Blicke von echten Zuschauern zugeworfen.
Es liegt eine ordentliche Portion Poesie darin, dass der „Tramp seine Karriere damit beginnen sollte, die Realität zu zerstören. Er springt ungeschickt ins Bild, folgt der Kamera, während sie schwenkt, und gibt immer wieder vor, nur beiläufig in die Szene zu wandern. Er fleht buchstäblich darum, gefilmt zu werden.
Technisch gesehen markierten „Kid Auto Races“ den zweiten Auftritt der Figur; Chaplin benutzte sie zunächst für „Mabel in peinlicher Lage“, das früher gedreht, aber erst einige Tage später veröffentlicht wurde. Der ikonische Schnurrbart des „Tramps“ wurde dazu genutzt, um Chaplin älter aussehen zu lassen; er war ein Leichtgewicht und hatte glatte Wangen, und ohne Make-up sah er etwa wie 19 aus. In den frühen Filmen wurde sein Gesicht mit künstlichen Falten bemalt, aber als Chaplin den Charakter verfeinerte, ließ er diese Falten weg. Infolgedessen scheint der „Tramp“ rückwärts zu altern. Schon früh sieht er aus, als könnte er Ende 30 sein; als Chaplin anfing, Features zu machen, nahm die Figur ein bewusst unbestimmtes Aussehen an – eine Art Zeitlosigkeit, die die absichtlich im Diffusen gelassenen Schauplätze seiner späteren Filme widerspiegelt. Es passt auch hervorragend zu Chaplins Verwendung von Kauderwelsch anstelle von Sprache in seinen ersten drei Filmen aus der Tonzeit. Das beginnt bei den Kazoos, die für die Darstellung anstelle von Stimmen in „Lichter der Großstadt“ verwendet wurden, und reicht bis zu den gefälschten deutschen Reden in „Der große Diktator“, seinem ersten dialoglastigen Film.
Mit anderen Worten, Chaplins „Trampfilme“ (zu denen im Grunde auch „Der große Diktator“ gehört) sind darauf angelegt, kulturelle Grenzen zu durchbrechen und zu überschreiten. Chaplins Sinn für Design, der von der elementaren Person des „Tramps“ bis zum eigentlichen Filmemachen reicht, ist anmutig und direkt.
Nehmen wir zum Beispiel das erste Treffen des „Tramps“ mit dem blinden Blumenmädchen (Virginia Cherrill) in „Lichter der Großstadt“, das eine der elegantesten Szenen der gesamten Filmgeschichte ist. Der „Tramp“ entdeckt einen Motorrad-Cop und kriecht durch ein geparktes Luxusauto, um auf der anderen Seite des Bürgersteigs wieder aufzutauchen. Das Mädchen hört, wie sich die Autotür öffnet, und bietet ihm unter der Annahme, dass der „Tramp“ der Besitzer des Autos sei, an, sich eine Blume für sein Revers zu kaufen. Als sie ihm die Blume reicht, schlägt er sie ihr aus Versehen aus der Hand. Er hebt sie auf, bemerkt, dass sie noch immer auf dem Boden nach ihr sucht, und erkennt, dass sie blind ist. Er gibt ihr die Blume zurück. Sie setzt sie sanft in das Knopfloch seines Revers. Er bezahlt sie mit seiner letzten Münze, aber bevor sie ihm sein Wechselgeld zurückgeben kann, kommt der Besitzer des Luxusautos zurück. Die Tür knallt, das Auto fährt weg, und der „Tramp“ steht neben dem Blumenmädchen, das glaubt, sein Kunde wäre in aller Eile verschwunden. Anstatt die Illusion zu zerstören, bleibt er still. Für einen Moment war er in der Vorstellung von jemandem ein respektabler Mann.
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