Der Tod und das dunkle Meer

Stuart Turton – Der Tod und das dunkle Meer

Turton klein

Ein unerwarteter Zwischenstopp im Jahr 2003 inspirierte Turton zu diesem fesselnden Krimi. Nachdem er einen Flug nach Singapur verpasst hatte, saß der Autor in Australien fest. Um die Zeit totzuschlagen, besuchte er ein Schifffahrtsmuseum in Perth, wo er sich über den Schiffbruch der Batavia im Jahr 1629 informierte. Jahre später beschloss er, die Geschichte des Schiffes auf seine Weise zu schreiben.

Bevor er dieses Buch schrieb, kehrte er nach Perth zurück, besuchte Indonesien (wo sein fiktives Schiff, die Saardam, den Hafen verlässt) und studierte Aufzeichnungen im British Museum und in der British Library. Er durchforstete Passagierlisten aus den 1600er Jahren und entlieh sich Namen für viele seiner Figuren.

„Der Tod und das dunkle Meer“ ist voller realistischer Details über das Leben an Bord der Saardam, einschließlich Figuren, die sich mit Eimern aus Meerwasser waschen und sich über Bord lehnen müssen, um ihr Geschäft zu verrichten.

Turton fühlt sich jedoch kaum den Details der Geschichte verpflichtet. In dem Moment, in dem sie seine Handlung stören, sortiert er sie aus. Das ist das, was gute Autoren tun: Sie unterwefen alles der zu erzählenden Geschichte.

Interessanterweise befand sich Stuart Turton 2018 auf einer gemeinsamen Lesereise mit Laura Purcell im Vereinigten Königreich. Interessant ist das deshalb, weil die jeweiligen Bücher der Autoren auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Wer sich davon überzeugen will, kann sich gerne die Episode über Purcells stille Gefährten anhören. Ihren zweiten Roman – das Korsett – bekommen wir mit obligatorischer jahrelangen Verspätung aber ebenfalls noch in diesem Jahr.

Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass beide Autoren zu dem gehören, was ich bereits The New Wave of Gothic Novel genannt habe. Natürlich ist der Begriff schwammig, vor allem, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel Turtons Debüt Die 7 Tode der Evelyn Hardcastle eher Agatha Christie mit Science Fiction mischt und Laura Purcell sich im Bereich des Gothic-Krimi aufhält, aber beide sind sie Stimmen einer neuen und vielversprechenden Autorengeneration.

Und in seinem fabelhaften neuen Roman, der vor dem Hintergrund einer Seehandelsroute aus dem 17. Jahrhundert spielt, triumphiert wie erwähnt die Handlung vor einem etwaigen Ansatz, sich einer zeitgenössischen Umgangssprache zu bedienen, wie es eventuell in einem historischen Roman der Fall gewesen wäre, was dem Aufbau und der Charakterisierung der Figuren sicherlich nur hinderlich gewesen wäre.

Turton hat sich dafür entschieden, die sprachlichen Merkmale des Seefahrer-Kauderwelschs einem erkennbar modernen, Sprachstil unterzuordnen, der auf Schritt und Tritt Atmosphäre, Vorahnung und Schrecken vermittelt. Mir ist völlig bewusst, dass ich ähnliches – gerade bei erwähnter Laura Purcell – schon einmal kritisiert habe, aber hier ist der Sachverhalt doch etwas anders gelagert, denn es finden sich keine unangebrachten Modernismen.

Der Spannungsaufbau in dieser linearen Erzählung einer Reise zwischen dem fiktiven Außenposten Batavia – einer brütendheißen Kolonie irgendwo in Niederländisch-Ostindien – und Amsterdam ist erstaunlich überzeugend; eine Sprache, die sich nur durch eine krasse Klassentrennung auszeichnet, verstärkt die Unmittelbarkeit des Dramas und lässt die Struktur atmen. Mal brutal, mal wortgewaltig, unterstützt diese Sprache die überzeugende Darstellung einer klaustrophobischen See-Odyssee, die andernfalls eher hinderlich gewesen wäre.

Turton wahrt die erzählerische Distanz in der dritten Person und setzt auf viele Dialoge. Was ihm an zeitgemäßer Authentizität fehlen mag, macht er durch Rasanz, Witz und ernsthafte Menschlichkeit wett, sei es im Seefahrerjargon, bei der Beschreibung eines Gesprächs zwischen einem Offizier und einem Seemann oder bei der Beschreibung der stinkenden Abgründe einer Latrine tief in den Eingeweiden des Schiffs.

Das Gewicht des Gerüsts der Saardam lastet auf den Insassen; es ist zugleich Gebärmutter und Sargdeckel, und seine Schächte, Schlupfwinkel und Ritzen verleihen dem Verstecken in den dunklen Bilgen des Schiffes zusätzliche Schichten gruseliger Andeutungen.

Es ist Arent Hayes, der riesenhafte, intelligente Söldner, dessen Aufgabe es ist, den inhaftierten Sammy Pipps bei dessen brillanter, forensischer Suche nach dem Dämon an Bord der Saardam zu unterstützen, dem wir eine zutiefst bequeme Darstellung der wichtigsten Themen der Geschichte verdanken.

In einer geschickten Rekapitulation am Ende des Romans gibt Turton die Verwicklungen der Handlung wieder und bietet so eine praktische Zusammenfassung für den geistesabwesenden Leser.

Die Anforderungen dessen, was wie eine tragische Notwendigkeit aussieht, die Tod auf Mord und Sturm auf Chaos häufen, treiben Turtons Geschichte an den Rand des Wahnsinns und der kontrollierten Implosion. Und genau das ist der Punkt. Die einzelnen Figuren, die eine pikareske und farbenfrohe dramatis personae bilden, sind für die Dauer einer zunehmend fiebrigen, verfluchten und gefährlichen Reise an der metaphorischen Hüfte miteinander verbunden. Die Überlebenschancen hängen von den guten Absichten des Schiffes und dem verhandelbaren Wohlwollen seiner Hierarchie ab, vom Generalgouverneur von Batavia, der mit einem unbezahlbaren Navigationshilfsmittel mit dem ironischen Namen Phantasterei (im Original „The Folly“) nach Hause zurückkehrt, über den eleganten Kapitän Crauwels, den brutalen Bootsmann Johannes Wyck bis hin zum Zwerg Isaack Larme, dessen Einfluss auf eine unberechenbar gewalttätige und käufliche Besatzung seine körperliche Beschränktheit Lügen straft.

Turton versteht es, eine Equipage der guten Sitten und des Anstands zu konstruieren, deren Grundstruktur an den Stellen, an denen sie sich verengt, stark beeinträchtigt wird.

Die Unterscheidung zwischen Besatzung und Passagieren, zwischen der Würde von Sara, der mißhandelten Frau des Gouverneurs, Creesjie, der flatterhaften und doppelt verwitweten Schönheit, und Lia, Saras brillianter Tochter, und dem entwürdigenden Kabinenfieber des männlichen Blicks wird in den Bilgen der sich entfaltenden Ereignisse nivelliert.

Nicht zuletzt durch das scheinbar allwissende Auge des alten Tom, eines Teufels, dessen Anwesenheit das stakkatoartige Vorankommen des Schiffes überschattet und dessen Absicht es zu sein scheint, alle an Bord zu vernichten. Von Jan Hahn, dem Gouverneur, in Erfüllung der Verpflichtungen eines alten faustischen Pakts an Bord „heraufbeschworen“, sind Toms Auftritte, abgesehen von den Folgen des schrecklichen Gemetzels, wirklich gruselige Abstraktionen: Gespenstische Lichter einer „Achten Laterne“, deren Herkunft unbekannt ist, tauchen die Kabinen in ein unheimliches Rot und deuten auf das Chaos hin, das folgen wird.

Turtons Charakterzeichnung ist so geschickt zweideutig und überzeugend doppelbödig wie die Spannung zwischen religiöser Leichtgläubigkeit und der forensischen, diagnostischen Intelligenz von Sammy Pipps‘ Beteuerungen: Jan Hahn ist teils ein frauenfeindlicher Tyrann, teils ein Beschützer; der sanfte Riese Arent Hayes, von dem die Geschichte abhängt, ist zu extremer Gewalt und zu selbstloser Loyalität fähig; und Sara Wessel wird durch ihre Erfahrungen verändert, während die Verkleidung des Furniers abbröckelt:

„Als sie vor drei Wochen an Bord der Saardam gegangen war, hatte sie das Gefühl gehabt, unter einer so dicken Schicht aus Etikette und Hass begraben zu sein, dass sie fast vergessen hatte, wer sie war.“

Die dunklen Seiten des Charakters kommen zum Vorschein, wenn das Furnier der Zivilisation bis zur völligen Auflösung getestet wird, und Turton spielt die Karte der Angst mit großer Wirkung – ein flüsternder Mephistopheles bietet unvergleichliche Reichtümer für den Verkauf von Seelen in mörderischer Absicht, die Prüfung der geistigen Widerstandsfähigkeit in einer zutiefst abergläubischen Zeit durch das allgegenwärtige Auftauchen eines Teufelsmales.

Die Auflösung kommt, als die Sardaam an den scharfen Felsvorsprüngen einer Insel zerschellt.

Hier kommen kriminelle Wahrheiten über ansonsten „zuverlässige“ Charaktere zum Vorschein, in einem Auf und Ab von Anschuldigungen. Menschliches Handeln, Taschenspielertricks und Einfallsreichtum sind die letzten Schiedsrichter, während erstaunlich komplexe Erklärungen den Leser mit falschen Identitäten und unerwarteten Schuldzuweisungen verwirren. Und wenn sein Finale Der Teufel und das dunkle Wasser in eine nicht ganz überzeugende Decke aus Auflösung und Übereinstimmung hüllt, ist das fast nur noch von geringer Bedeutung.

Buch bei Klett-Cotta.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht.

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