Die Drehung der Schraube

Henry James – Die Drehung der Schraube

„Die Drehung der Schraube“ ist wahrscheinlich das umfassendste analysierte Stück Literatur aus den 1890ern. Die Handlung ist nicht etwa spektakulär und einzigartig, soweit es Geistergeschichten betrifft; und trotzdem ist das hier James’ meistgelesene Erzählung, ist Die Drehung der Schraube die genialste Konstruktion einer Geistergeschichte in englischer Sprache. Die große Kraft der Novelle speist sich aus der Untersuchung eines komplexen Netzes aus Zweifeln, die im Hintergrund des Denkens der Hauptcharaktere lauern, und die in vielerlei Hinsicht die Vorbehalte spiegeln, die im Kopf eines Lesers von Geistergeschichten auftreten.

Diese merkwürdige Umkehrung der Beziehung zwischen dem Leser und dem Autor bildet die Bühne für eine Geschichte, die wie eine Matroschka-Puppe funktioniert, die sich Schicht für Schicht auf wenigen hundert Seiten entblättert.

Die Drehung der Schraube ist beinahe ein Konzentrat aller archetypischen Motive, die es in der englischen Geistergeschichte gibt, wobei ihr Geltungsbereich mehr ein amerikanischer ist. Henry James, der mehrere andere Geistergeschichten abseits seiner Mainstream-Erzählungen geschrieben hat, gelingt diese Art von Erzählung hier so souverän durch ihre fast schon besessen zu nennende Implementierung von Mehrdeutigkeiten. Oscar Wild nannte sie „eine wunderbare, grelle, giftige kleine Geschichte“, und das ist eine passende Einschätzung. Die Drehung der Schraube hüllt uns in einen Nebel des Zweifels und des Misstrauens, versetzt uns in den Kopf des Erzählers, und zwingt uns, rätselhafte Ereignisse durch ihre Augen zu sehen: es gibt hier keine Dritte-Person-Erzählform, um unseren unvermeidlichen Unglauben herauszufordern, stattdessen müssen wir uns auf die Fakten stützen, wie sie der Erzähler präsentiert; das sind jene einer – wahrscheinlich wahnhaften – sie, also einer Erzählerin. Aber ist sie denn tatsächlich wahnhaft?

Die Handlung bezieht sich auf die Isolation einer Gouvernante in einem weitläufigen Landhaus, wo sie für zwei Kinder verantwortlich ist, die unter den Einfluss einer Bedrohung geraten sind, der übernatürlichen Ursprungs sein kann oder auch nicht. Im weiteren Verlauf der Geschichte sind wir gezwungen, uns die Frage zu stellen, was von dem, was uns der Erzähler mitteilt, tatsächlich stimmt. Die Drehung der Schraube ist ein gutes Beispiel des „unzuverlässigen Erzählers“, der einen so großen Einfluss auf die Literatur der Moderne hatte. Der Gegenstand dieser Novelle eignet sich natürlich auch hervorragend für dieses Modell, und die Erzählung gilt bis heute als eines der berühmtesten Beispiele dieser Technik.

Die Drehung der Schraube bezeichnet das Todesröcheln einer literarischen Gotik – das finale Schlüsselwerk einer hundert Jahre währenden Tradition – und als solches wird verständlich, wie es die gesamte Tradition der Schauerliteratur zusammenfasst. Es gab natürlich ein späteres Leuchtfeuer – Lovecraft, Blackwood, Du Maurier, und andere – als das 20. Jahrhundert zu seiner dunkleren Stimme fand, aber Die Drehung der Schraube bleibt der letzte Vorhang der echten Gothic Novel: sie markiert den Beginn der psychologischen Horrorgeschichte und das Ende des „Geisterschlosses“, der „umherwanderndes Skelett“ – „Dame in Nöten“ – Schule.

Sie fasziniert nach wie vor, vor allem deshalb, weil so viel hinein gelesen werden kann. Wenn wir zugeben, dass eine Schlussfolgerung offen bleiben muss, müssen wir jedoch ebenfalls einräumen, dass ein Teil ihrer Sinnhaftigkeit schwarz/weiß erscheint: Die Drehung der Schraube erläutert so viel wie sie verschleiert, und ebnet den Weg für einen zerebralen Horror, der das Markenzeichen der nächsten Generation in all ihrer Düsternis sein würde: der Weird Tale.

Wie jede Fiktion, die eine Phase des Übergangs markiert, ist Die Drehung der Schraube äußerst Schwierig zu definieren oder einzuordnen, das trifft auf den Gegenstand der Erzählung genauso zu, wie auf deren Wirkung. James mag vielleicht nicht der wichtigste Autor von Schauerliteratur der Viktorianischen Epoche gewesen sein, aber sein Werk ist fraglos eines der besten Beispiele für diese Strömung: es ist knackiger als Stoker, und erschreckender als Stevenson, mehr an Poe angelehnt und deshalb amerikanischer als das Werk seine Kollegen (wobei zu bedenken steht, dass man Poe für ziemlich europäisch hält, aber das ist eine andere Geschichte). James mag im strengsten Sinne anglophil gewesen sein, aber seine dunkelste Arbeit, Die Drehung der Schraube, enthält alle Prinzipien der American Gothic; sie ist – und bleibt – gemeinsam mit Poes Erzählungen, die beste Arbeit des gesamten Kanons.

Die aktuelle Auflage ist bei Suhrkamp erschienen.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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