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Die Geschichte der Fantasy – Teil 4

In den ersten drei Teilen haben wir uns die Frage gestellt, wer denn der erste Autor war, der eine von unserer Welt unabhängige Geschichte präsentierte und was das überhaupt bedeutet. Wir haben vier Merkmale gefunden, anhand denen wir so eine Geschichte identifizieren können. Außerdem haben wir uns verschiedene Modelle innerhalb der Literaturgeschichte angesehen, um zu erkennen, warum gerade sie nicht infrage kommen. Heute lösen wir unsere Suche auf.

Der Gebrauch des Rahmens eines Märchenerzählers kann – wie wir im letzten Teil gesehen haben – dazu dienen, einen gewissen Realismus zu erzielen, wenn nämlich dadurch die Realität abgesichert werden soll. Es geht nicht allein darum, sich zu fragen, weshalb eine Geschichte überhaupt erzählt werden sollte, sondern viel mehr um den Anspruch auf Authentizität. Denken wir nur an die Briefe, die im Mittelalter im Umlauf waren, und die angeblich von dem mysteriösen Priesterkönig Johannes geschrieben wurden. Darin wird von allen möglichen Wundern gesprochen, die man angeblich in seinem nichtexistierenden Land finden könnte. Gleiches gilt für die „Reisebeschreibungen“ des Jehan de Mandeville, der im 14. Jahrhundert Fantasien darüber verfasste, wie es hinter den Grenzen der im Mittelalter bekannten Welt aussehen sollte. Er schrieb seine Geschichten mit dem Vorwand, dass er all das mit eigenen Augen gesehen hätte (und bestätigte sogar das mystische Land des Priesterkönigs Johannes). Die Leute glaubten viele Jahrhunderte lang, was darin stand.

Das wohl interessanteste Beispiel für die Glaubwürdigkeit eines gut gemachten fiktionalen Rahmens erhalten wir in  Gullivers Reisen. Das Buch ist als Reisebeschreibung so gut konzipiert, dass, laut Swift, ein Bischof, der das Buch gelesen hatte, sagte, dass es „voller unwahrscheinlicher Dinge“ sei, und dass er nur „schwer ein Wort davon glauben konnte.“

Das erklärt aber auch, warum Schriftsteller keine Eile damit hatten, eine komplett neue Welt zu erfinden: für einen sehr langen Zeitraum war ihre Welt groß genug.

(Es ist bemerkenswert, dass der Begriff „Multiversum“ im Sinne von komplexen, nebeneinander existierenden Universen, zuerst von Michael Moorcock im Jahre 1962 in die Literatur eingeführt wurde, um damit den neuesten Erkenntnissen der Physik Rechnung zu tragen. Die heutige Akzeptanz anderer, eigenständiger Welten, rührt zum großen Teil daher. Doch es war Stephen King, der das Multiversum endgültig salonfähig machte.)

Es scheint eine Notwendigkeit zu geben, immer komplexere Welten miteinander zu vermischen. Wenn die eigenständige Welt der Fantasy die ultimative Verdrängungsstrategie ist, die Verlagerung einer Erzählung in ihre eigene unabhängige Welt mit ihrer völlig eigenen Realität, was sagt das über diese Geschichten aus? Was ist letztlich die Bedeutung einer unabhängigen Fantasiewelt?

Wenn also das die auf die Spitze getriebene Verschiebung ist, dann kann man auch davon ausgehen, dass sich Fantasy dorthin bewegt, wo sie einst begonnen hat: im Mythos. Fantasy ist demnach ein effektives kosmologisches Ereignis, das Bilden einer neuen Welt, eines neuen Universums, mit seiner eigenen Geschichte und seinem eigenen Seinsgrund.

Was ich mit all dem sagen will, ist, dass die Idee einer Anderswelt der extremste Ausdruck der Fantasie überhaupt ist. Die Freiheit, über eine unabhängige Welt verfügen zu können, die hermetisch in sich geschlossen ist, birgt das Potential, durch die jeweilige Fiktion die Welt als Ganzes zu vervollständigen. Ich glaube, das ist die Absicht nach dem Motto: alles, was überhaupt gedacht werden kann, existiert.

Und um den Lesern eine neue Möglichkeit der Realität zu präsentieren, ließen sich die Autoren Strategien einfallen, diese Realitäten zu verschieben. Unglauben und Staunen war das Ziel, das allerdings nur erreicht werden kann, wenn es eine Verbindung zwischen Realität und Fantasie gibt. Das ist nicht die Welt, die du kennst; es gibt andere, und hier ist eine davon.

Philip Sydney schrieb einst, dass

„ein Dichter schwerlich ein Lügner sein kann… er bestätigt nichts, also hat er auch niemals gelogen.“

Damit meint er, dass ein Dichter, ein Schriftsteller des Imaginativen, seine Geschichte nicht als Tatsache präsentiert; er schreibt seine Geschichte als Geschichte, als Hypothese. Man kann sie für bare Münze nehmen, oder nichts davon glauben. Oder einfach nur akzeptieren, dass die Geschichte eben nur eine Geschichte ist.

Somit wird auch die Anderswelt zu einem Ausdruck des Spekulativen, nichts ist sicher. Hier habe ich eine Geschichte, sagt der Phantast, und sie ist erfunden, und auch die Welt, in der sie spielt, ist erfunden, so wie alle Welten, die auf Papier stehen, erfunden sind. Es ist eine Hypothese, ein Traum, eine Mythe. Die Geschichte hat ihre eigene Realität. Und diese Realität ist per se schon einmal nicht mit jener Welt zu verwechseln, die wir um uns herum wahrnehmen.

Diese Selbstbezüglichkeit einer fiktiven Welt fordert uns heraus: wie viel von dem, was wir über die Welt zu wissen glauben, ist wahr? Wie viel, von dem, was wir als wahr annehmen, ist in Wirklichkeit eine Erfindung? Wie sehr lebt jeder von uns in seiner eigenen Welt?

Das nämlich sind die Fragen, mit denen wir in der Literatur konfrontiert werden, und das macht die Fantasy wichtig. Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wer hat die erste unabhängige Welt erfunden?

Im Jahre 1837 veröffentlichte Sara Coleridge, die Tochter des Dichters Samuel Taylor Coleridge, ein Buch mit dem Titel „Phantasmion“, das von den Kritikern der damaligen Zeit als Märchen behandelt und besprochen wurde. Auf den ersten Blick sieht es wirklich so aus, als gäbe es keinen Unterschied zu den deutschen und französischen Märchen, die zu dieser Zeit hoch im Kurs standen (denken wir nur an die Gebrüder Grimm). Allerdings liest es sich nicht wie ein Märchen. Tatsächlich liest es sich wie High Fantasy, wie eine Geschichte mit einer völlig eigenständigen Realität.

„Phantasmion“ beginnt nicht mit irgendeinem Hinweis auf eine Welt außerhalb der Geschichte. Prinz Phantasmion von Palmland begegnet einer guten Fee, die ihm einige wundersamen Dinge zeigt. Das hört sich noch nach Märchen an, bewegt sich aber dann schleunig in eine andere Richtung: Phantsmions Mutter, Königin Zalia, stirbt, ein Jahr später stirbt auch der Vater, König Dorimant. Regenten übernehmen das Königreich. Als Phantasmion zehn Jahre alt ist, stirbt sein bester Freund. Er begegnet der „guten Fee“ erneut. Sie gewährt ihm Flügel, und er fliegt davon, um eine eigenartige Szene zu belauschen, in der eine Frau, eine Königin, sich mit einer Meerjungfrau gegen eine andere Frau zu verschwören scheint. Er kehrt nach Hause zurück, die Fee tauscht seine Flügel gegen Saugnäpfe an den Füßen, mit denen er einen Berg besteigt. Während er das tut, rettet er ein Baby.

Das sind die ersten vier Kapitel des Buches. So weit, so gut. Wir finden eine konkrete Geographie vor; der Berg, den Phantasmion besteigt, ist Teil des „schwarzen Gebirges“, das wiederum von „Steinland“ getrennt ist, dem Gebiet eines benachbarten Monarchen. Wie gesagt wird Phantasmion von den Regenten seines Landes davon abgehalten, den Thron zu besteigen. Am Ende von Kapitel vier spricht er mit einem alten Edelmann, der ein Leibwächter seiner Mutter war – jedoch wird diesem Edelmann befohlen, sich von ihm fernzuhalten, bevor Phantasmion irgendetwas in Erfahrung bringen kann, das ihm nützt. Wir finden hier einen Ton vor, den es in einem typischen Märchen nicht gibt.

Aber das Folgende scheint tatsächlich beispiellos zu sein. Kapitel fünf beginnt so:

„Das Königreich, das Phantasmion von seinen Vorfahren geerbt hatte, strotzte nicht nur von Palmen, sondern auch von allen Getreidesorten und Obstbäumen, die man sich vorstellen konnte. Auch war es reich an Rinder- und Schafherden. Das Land wurde durchflossen von Milch und Wein, Öl und Honig; aber nur wenige Metalle und Edelsteine wurden bisher dort entdeckt.

Auf der anderen Seite lag das Königreich des Albinian, der über ein Gebiet herrschte, das von Palmland durch eine gewaltige Hügelkette getrennt war, die man das Schwarze Gebirge nannte, und teilweise auch von einem Fluss namens Mediana, der von hier zum Meer floss. Dieses Land war schroff und karg, reich an Metallen, Marmor und anderen Steinen, an Stoffen schließlich, aus denen man Glas und Porzellan herstellen konnte.

Die Männer von Steinland (so wurde dieses wilde Land genannt) waren sehr geschickt darin, mechanische Dinge herzustellen; die Bewohner des fruchtbaren Landes der Palmen hingegen lebten als Landwirte und hatten niemals die Kunst des Handwerks erworben, mit dem ihr Nachbarland so gesegnet war.

Von Alters her bereicherten und stärkten sich die beiden Länder gegenseitig, aber diese freundschaftliche Beziehung wurde durch Fehden und Anfeindungen während Dorimants Regentschaft mehr und mehr in ihr Gegenteil verkehrt.“

Die folgenden Kriegsvorbereitungen und Intrigen, die in dieser weitaus längeren Einführung geschildert werden, sind eindeutig der Kategorie Weltentwurf zuzurechnen, und zwar eindeutig dem phantastischen Weltentwurf.

Wir finden eine eigenständige Geographie vor, eine eigenständige Geschichte, erfahren etwas über die unterschiedlichen Völker – all das ohne eine Verbindung zur realen Welt. Die Einleitung entwickelt eine Vergangenheit und die Beziehung zwischen unterschiedlichen Territorien und Personen, um daraus jene Verwicklungen zu knüpfen, die in der Gegenwart angesiedelt sind. Wie bei Tolkien werden wir über etwas informiert, das schief gegangen ist, bevor die eigentliche Erzählung einsetzt; Dorimants Gier führt zur Störung, zum Streit der beiden einst idyllisch nebeneinander liegenden Reiche.

Es wäre jedoch falsch, zu behaupten, dass das Phantasmion aus dem Nichts kam.

Sicherlich bewegt sich E. T. A. Hoffmann bereits nahe an diesen Details, und Ludwig Tieck hat eine Sammlung seiner Märchen „Phantasus“ genannt. Seinerzeit sehr berühmt, könnte dieser Titel als Vorlage für Coleridges Buch gedient haben. Und dennoch hat keiner diese Autoren den letzten Schritt abseits von einer uns bekannten Welt gemacht.

Es war die Tochter des Mannes, der die Aussage vom „Aufheben des Unglaubens“ prägte. Diese Theorie führte zu einer Art der Erzählung, die mit einer neuen Strategie aufwartete. Das hatte zu dieser Zeit niemand mit dieser Konsequenz getan.

Erinnern wir uns an die vier Charakteristiken, die eine Fantasy-Welt aufweisen muss, die ich im ersten Teil dieses Artikels aufgeführt habe.

Coleridge erfand eine eigene Welt mit ihrer eigenen Logik (es gibt Magie und Prophezeiungen), ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Geographie. Die Bewohner dieser Welt besitzen ihre eigene Kultur, die sich an den Gegebenheiten, Gesetzen und Grenzen ihrer Welt orientiert. Coleridges Welt ist in gleichem Maße eine unabhängige Schöpfung wie Martins Westeros.

Ist es nun bedeutsam, dass William Morris nicht der erste war, der eine Geschichte in einer unabhängigen Welt ansiedelte? Nun, es ist vielmehr interessant und verschiebt zumindest die Tradition der Fantasy. Wir wissen nicht, welche moderne Autoren sich von Coleridge haben beeinflussen lassen, und wer überhaupt von der Existenz des Phantasmion wusste.

Es sieht so aus, dass die Tradition der Fantasy, die Tolkien hervorbrachte, davon ausgeht, dass diese mit Morris in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann. In der Folge bedeutet das, dass Fantasyliteratur als eine verspätete Reaktion auf die Literatur des Realismus gedeutet wird. Wenn wir die Fantasy aber mit der Romantik und der Schauerromantik von Coleridge verknüpfen, sehen die Dinge doch erheblich anders aus. Plötzlich erkennen wir Fantasy als eine gleichzeitige Entwicklung und nicht als eine bloße Reaktion.

Fantasy hat demnach ihre eigene und unabhängige Tradition, die natürlich auf anderen Kriterien beruht, als eine detaillierte Beschreibung unserer existierenden Welt abzugeben.


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