Leuchtturm

Natasha Pulley: Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

Pully

1898 erwacht Joe Tournier ohne jegliche Erinnerungen am Bahnhof Gare du Roi in Londres. Die Welt steht Kopf: England ist französisch, und Joe wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nur wenig später, als er wieder in Freiheit ist, trifft eine rätselhafte Postkarte bei ihm ein, die 90 Jahre zu ihm unterwegs war.

Auf der Postkarte ist ein Leuchtturm auf einer Insel in den Äußeren Hebriden mit dem Namen Eilean Mor abgebildet, auf der Rückseite steht ein kurzer Text: »Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M.«  Was hat es mit dem Leuchtturm auf sich und wie kann ein Mann mittleren Alters aus einer 90jährigen Vergangenheit heraus vermisst werden? Und wer ist M.? Joe macht sich schließlich auf die nicht ungefährliche Reise nach Schottland, um den Leuchtturm zu suchen und findet stattdessen einen Weg in die Vergangenheit. Unversehens gerät er in die Turbulenzen der großen Schlachten zwischen England und Frankreich, die lange vor seiner Geburt entschieden wurden. Schnell wird klar, dass jeder Schritt in die Vergangenheit auch seine Zukunft beeinflusst. 

Ein Buch von Natasha Pulley kann immer nur eines bedeuten: ein großartiges Leseerlebnis. Nachdem wir im letzten Jahr ihr Debüt „Der Uhrmacher in der Filigree Street“ von 2015 endlich bekommen haben, ist bei Klett-Cotta jetzt ihr viertes Buch „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ auf uns gekommen. Richtig gehört – nach dem Debüt haben wir das vierte als zweites bekommen. Das wirft natürlich die Frage auf, ob man sich auch nur ein einziges Werk dieser phantastischen Autorin entgehen lassen darf. Ich vermute, die Antwort müsste Nein lauten.

Das alles hat nur bedingt etwas mit dem vorliegenden Roman zu tun, der im Original „The Kingdoms“ heißt, und nicht weniger als ein Feuerwerk der Fabulierkunst ist. Ich habe gelesen, dass es sich um eine Mixtur aus alternativer Geschichtsschreibung, Zeitreise und Science Fiction handeln soll und kann das nicht verneinen, aber genauso gut könnte man sagen, ein Satz bestehe aus Buchstaben. Aber ich muss die Kollegen in Schutz nehmen; wie soll man einem solchen Werk denn gerecht werden, ohne gelegentlich in Gemeinplätze abzudriften? Oder anders ausgedrückt: Wie schnell geht man über das Besondere hinweg, weil man es gar nicht mehr wahrnimmt?

Gegenwärtig gibt es diese neue Generation von Autorinnen, deren Schreibstil etwas Magisches besitzt. Und damit meine ich nicht Magie im wörtlichen Sinne, obwohl ihrer Bücher tatsächlich magische Elemente enthalten. Ich meine die Art und Weise, wie sie es verstehen, ihre Geschichten zu weben. Und Natasha Pulley ist natürlich eine von ihnen.

Es gibt immer eine große Handlung (und in den meisten Fällen könnte man sie als Rätselgeschichten bezeichnen), aber selbst dann liegt der Schwerpunkt der Erzählung auf der Romanze. Davon sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen, Pulley schreibt keine Liebesromane: Sie schreibt Bücher über die Liebe, das schon, aber bei ihr bedeutet das, dass ihre Geschichten überhaupt nur deshalb entstehen, weil es darin Menschen gibt, die sich viel bedeuten.

Wir schreiben das Jahr 1898 und London – inzwischen in Londres umbenannt – wird von den Franzosen regiert. In dieser Version der Geschichte hat Großbritannien die Napoleonischen Kriege verloren: Die Aristokratie wurde abgeschafft, die Sklaverei jedoch nicht. Jetzt kommt es zu einer Welle seltsamer und unerklärlicher Amnesien. Einer der Amnesiekranken ist Joe Tournier, ein Leibeigener, der sich außerdem mit technischen Dingen sehr gut auskennt. Wie man sich vorstellen kann, dreht sich die ganze Geschichte im Grunde darum, dass Joe versucht, seine Vergangenheit zu klären und zu erfahren, wer die Menschen sind, nach denen er sich sehnt.

Es stimmt schon, es ist eine Art Mischung aus alternativer Geschichte, Zeitreise und Science Fiction. Während wir uns in der Zeit rückwärts und vorwärts bewegen, sehen wir verschiedene Möglichkeiten: Gesellschaften, die auf unterschiedliche Weise geformt wurden, und Leben, die hätten gelebt werden können, es aber nicht wurden Es gibt riesige Schiffe und Seeschlachten, es gibt viel Gewalt und Blut in diesem Buch. Es könnte wahrscheinlich nicht ereignisreicher sein. Und doch geht es im Kern um Liebe.

Joe hat keine Erinnerung an seine Vergangenheit und ist ständig auf der Suche nach dem fehlenden Teil seines Lebens, wobei er sich nur von Blitzen aus der Vergangenheit leiten lässt: einem Mann, der wartet, und einer Frau namens Madeline. Als er eine mysteriöse Postkarte erhält, die fast hundert Jahre zuvor verschickt wurde, wird er zu einem abgelegenen schottischen Leuchtturm gezogen und erlebt dort eine Reihe von unvorhersehbaren, aber bizarren Abenteuern.

Auf der Postkarte steht nur: „Komm nach Hause, wenn du dich erinnerst“. Es geht um die Idee, dass die Liebe stärker sein kann als die buchstäblichen Gesetze der Zeit und der Physik. Dass man die Welt verändern kann, um die eine Person zu finden, die dein Seelenverwandter ist.

Das Problem an diesem Roman wird für manche Leser möglicherweise das Tempo sein. Gerade in einer Zeit, wo man selbst guten Autoren zumutet, sogenannte Pageturner schreiben zu müssen, die überhaupt keine Tiefe entwickeln, könnte man sich schwer tun mit einer Pulley, die ganz genau weiß, wie wichtig es ist, aufzuzeigen, warum die Dinge passieren und warum die Figuren das tun und sagen, was sie tun. Tatsächlich scheint es manchmal gerade diese Fülle zu sein, die das Buch auf eine geheimnisvolle Weise verlangsamt, und das garantiert wiederum, dass man all diese Emotionen voll miterleben kann. Die ganze Geschichte stellt sich nicht nur vor das innere Auge, sondern lässt es zu, dass man darin verschwindet.

Bisher ist dies das beste von Pulleys Büchern. Natürlich habe auch ich vorher nur ihr Debüt gelesen, so dass man nicht gerade eine Entwicklung nachvollziehen kann, sondern gleich einen Quantensprung. Und das bedeutet natürlich nicht, dass nicht bereits ihr Uhrmacher eine sehr interessante Lektüre gewesen wäre.


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