Rope

Hitchcock: Cocktail für eine Leiche

Cocktail für eine Leiche ist einer der mutigsten Filme, die Alfred Hitchcock je drehte. Hier verwandelt der Meister des „Suspense“ ein kleines Spannungsstück in einen ganzen Spielfilm, und zeigt uns die Kehrseite der Thriller, mit denen er sich einen Namen machte. Mord wickelt sich in vielen Filmen mehr über das Motiv als über die Konsequenz ab. Die bösen Jungs planen ihr Verbrechen und sind viel Interessanter, bevor sie ihre Tat bereuen. Cocktail für eine Leiche verwirft diese Formel, lehnt sich an eine wirkliche (und besonders kaltherzige) Geschichte an und macht sich über deren Nachwirkung lustig.

Der Film ist der dunkle Schatten von Das Fenster zum Hof, den Hitchcock sechs Jahre später drehen sollte. Auch hier sehen wir James Steward in der Hauptrolle und auch hier spielt sich die Handlung in einem kleinen städtischen Apartment ab. In diesem späteren Film ist unser (und Stewards) Voyeurismus moralisch gerechtfertigt. Wir glauben, einen Mord beobachtet zu haben, sind uns dessen aber nicht sicher. Die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, ruht in der weiteren Beobachtung der Szenerie. In Cocktail für eine Leiche wissen wir ganz genau, welchem kranken Geschehen wir da zusehen, die einzige Frage ist, wie lange wir es aushalten.

Es beginnt mit einem Mord und endet mit einem Pistolenschuss, der die Polizei auf den Plan ruft. Was dazwischen geschieht, wird in fast quälender Echtzeit gezeigt.

David, Brandon und Philip haben sich in einem schicken Apartment in Manhattan auf einige Cocktails getroffen, aber zwei von ihnen erdrosseln den dritten und stecken seine Leiche in eine schwere Holzkiste. Anstatt sich oder den Beweis für ihren Mord zu verstecken, laden sie die Angehörigen des Toten ein, um Champagner zu trinken und sich ein wenig zu unterhalten, alles nur ein paar Schritte von diesem kalten Körper entfernt. Während die Sonne über der Skyline von New York untergeht, diskutieren die Gäste dieses „Opferfests“ über das Opfer und sein unerwartetes Ausbleiben, während die Kiste mit der Leiche im Vordergrund steht. Constance Collier gibt als die Tante des Toten die komische Figur, Cedric Hardwickle spielt den Vater als klugen, nüchternen Moralisten. Langsam beginnt der ehemalige Universitätslehrer des hochmütigen Brandon (John Dall) und des sensiblen Philip (Farley Granger), gespielt von James Steward, der hier von Hitchcock zum ersten Mal eingesetzt wird, die Anspielungen und Hinweise zu verstehen.

Der Film wurde aus dem Theaterstück Rope von 1929, wie er auch im Originals heißt, adaptiert, das lose auf dem grausigen Fall von Leopold und Loeb, geschehen 1924, basiert. Nathan Leopold und Richard Loeb waren zwei Studenten der gehobenen Klasse in Chicago, die mit ihrem Mord einfach nur den Nervenkitzel suchten. Wie die beiden Snobs Brandon und Philip, betrachteten sich die echten Mörder als Übermenschen im Nietzscheschen Sinne, deren Überlegenheit des Intellekts sie über ihre Mitmenschen und das Gesetz stellte, wie sie glaubten.

„Gut und böse, richtig und falsch wurden für den gewöhnlichen Durchschnittsmenschen erfunden, den minderwertigen Mann, weil er diese Klassifizierungen braucht,“ erklärt Brandon, der sich die Tat ausdachte, um seine Erhabenheit zu beweisen.

Einen Menschen zu töten, nur um die eigene intellektuelle Eitelkeit zu füttern, ist eine abscheulich amoralische Tat, aber es ist nur ein Kunststück, mit dem sich der Regisseur hervortut. Für Hitchcock ist – wie für Brandon und Philip – Mord eine Kunst, und als er Rope drehte, wollte er damit seine eigene Version dieses Kunstwerks vorstellen. Der Film wurde in einem Rutsch gedreht, ist ein Experiment in Echtzeit. Technisch gesehen ist das beste daran die Studio-Skyline im Hintergrund mit ihren Fiberglas-Wolken, der wandernden Sonne, und den Neonlichtern, die bläulich und rot-grün blinken, als der Film auf seinen Höhepunkt zusteuert.

Hitchcocks Kamera war mit 10-Minuten-Rollen gefüllt und musste hinter dem Rücken eines Schauspielers oder hinter einem Möbelstück „unsichtbar“ von einem Stück Film zum nächsten schneiden. Die so entstehende Klobigkeit macht jedoch einen Teil der klaustrophobischen Strenge des Films aus: die schwere Truhe ist selten nicht im Bild, und die Kamera folgt den Schauspielern auf jedem Zentimeter des begrenzten Sets. Sie sind genauso gefangen wie das Publikum. Hier reproduziert das filmische Experiment die Theatererfahrung: Cocktail für eine Leiche fühlt sich an wie eine Live-Performance, und in jeder Minute könnte einer der Schauspieler etwas Unerwartetes tun, er könnte patzen oder – Gott bewahre – die Truhe öffnen.

Hitchcock quält sein Publikum natürlich, aber er macht das auf eine kluge Weise. Wie Brandon möchte er, auf einer anderen Ebene freilich, ertappt werden. Natürlich gibt es trotzdem Schnitte im Film, aber man bemerkt sie nur, wenn man der Regie und nicht der Geschichte folgt. Sobald man einen entdeckt hat, stellt man sich die Frage, warum er an dieser Stelle gemacht wurde, und schon denkt man über Hitchcock, den Regisseur, nach, und nicht mehr über sein willfähriges Publikum. Wie Brandon möchte Hitchcock ernst genommen werden.

Wenn Steward, in der Rolle des Lehrers, das Verbrechen aufdeckt, ist seine Wut rechtschaffen: „Dachtest du, du wärst Gott, Brandon?“ Hitchcock ließ nie einen Zweifel daran, dass der Regisseur eines Films Gott ist. Alles, was wir im Film sehen, wurde sorgfältig geplant, und dank Hitchcocks legendärem Vertrauen in Drehbuch und Manuskript, wurde davon auch in keiner Sekunde abgewichen. Selbiges gilt für Davids Mörder.

Hitchcock hatte sein Vergnügen daran, das Publikum leiden zu lassen, und in Cocktail für eine Leiche dreht es sich um die Schuld, die Brandon ob seiner Tat fühlen sollte, die wir abbekommen.

Die Mörder brauchen ein Publikum, das ihr Verbrechen beklatscht, und mit deren Cocktailgästen in der Halbdunkelheit macht uns unser privilegiertes Wissen um das, was sich in der Truhe befindet, zu Komplizen des Mordes. Und das löst neben der bereits genannten klaustrophobischen Stimmung unser Unbehagen aus. Ein sich windendes Publikum war für Hitchcock das Salz in der Suppe, und er brachte die Mörder auf die Leinwand, aber wir sind diejenigen, die ihn dafür bezahlten, zuschauen zu dürfen.

MEP

MEP

Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber des Phantastikon.

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