„Die Streußel schmecken süß, jedoch
viel süßer schmeckt der Boden noch.“
Eines muss ich vorweg schicken: Wir haben es hier nicht definitiv mit einem Jugendroman zu tun, obwohl man sich natürlich glücklich schätzen kann, wenn Jugendliche diesen Roman lesen und auch genießen können. Sicher ist Flavia de Luce ein elfjähriges Mädchen, aber – wie wir gleich sehen werden – unterscheidet sie sich in fast jeder Hinsicht von dem, was man von einem 11-jährigen Mädchen erwarten kann. Tatsächlich ist die ganze Reihe vom Goldenen Zeitalter der Krimis durchtränkt, beeinflusst von der Wertschätzung des Autors für die Arbeit von Chesterton, Agatha Christie, Conan Doyle oder Dorothy L. Sayers. Das heißt, dass es sich um herrlich altmodische Krimis handelt, die mit einigen intellektuellen Seitenhieben aufwarten.
Die Entstehungsgeschichte des ersten Flavia de Luce-Romans „The Sweetness at the Bottom of the Pie“, der bei uns wieder einmal jeglicher Poesie beraubt wurde und in nichtssagender deutscher Tradition „Mord im Gurkenbeet“ lautet, ist bereits ein kleines Phänomen. Der Kanadier Alan Bradley schrieb bis dahin hauptsächlich Drehbücher, bevor er auf die Idee kam, etwas anderes zu machen. Es war seine Frau, die im Radio davon erfuhr, dass die britische Crime Writers‘ Association einen Romanwettbewerb veranstaltete. Es sollte – wie das nicht selten üblich ist – das erste Kapitel und ein Exposé eingereicht werden. Tatsächlich arbeitete Bradley 2006 gerade an einem Buch, das in den 1950er Jahren spielt, als sich die Handlung dahingehend entwickelte, dass ein Detektiv an einem Landhaus ankam und in der Einfahrt ein kleines Mädchen vorfand, das „auf einem Hocker saß und irgendetwas mit einem Notizbuch und einem Bleistift machte“. Dieses kleine Mädchen spielte im Roman gar keine wichtige Rolle, aber Bradleys Frau bestand darauf, dass er für den Romanwettberwerb den aktuellen Roman verwerfen und stattdessen das Zeug mit dem Mädchen auf dem Hocker an die Crime Writers‘ Association schicken solle.
Bradley selbst erklärt:
„Sie tauchte auf der Seite eines anderen Buches auf, an dem ich gerade schrieb, und übernahm einfach die Geschichte“.
Ein Kanadier in England
Anfang 2007 nahm Bradley am Dagger-Wettbewerb teil und reichte fünfzehn Seiten über die Figur des „Mädchens auf dem Hocker“ ein, die nun Flavia de Luce hieß. Diese Seiten, die in wenigen Tagen geschrieben und mehrere Wochen lang poliert wurden, sollten die Grundlage für „The Sweetness at the Bottom of the Pie werden“.
Bradley siedelte das Buch in England an, obwohl er noch nie da war. Das kommt bei Autoren aus Übersee allerdings häufig vor. Denken sie an einen Krimi, denken sie auch sofort an England. Mit diesem ersten Kapitel überzeugte Bradley die Jury sofort und gewann den renommierten Dagger für ein Debüt, das es noch gar nicht gab. Es kam zu einem Bieterkrieg, und am 27. Juni 2007 verkaufte Bradley dem Verlag Orion die Rechte für drei Bücher in Großbritannien. Im Alter von 69 Jahren verließ Bradley zum ersten Mal Nordamerika, reiste nach London und nahm den Dagger Award entgegen. Dann erst schrieb er den Roman fertig, der 2009 erschien und eine Flut von Lobpreisungen einheimste.
Bradley beschreibt das Thema als „jugendlichen Idealismus“ und wie weit dieser Idealismus jemanden bringen kann, „wenn er nicht unterdrückt wird, wie es so oft der Fall ist“. Er erklärt:
„Wenn man in diesem Alter ist, hat man manchmal eine große, brennende Begeisterung, die sehr tief und sehr eng ist, und das ist etwas, das mich immer fasziniert hat – diese Welt der 11-Jährigen, die so schnell verloren geht.“
Der Tote im Gurkenbeet
Tatsächlich ist „Mord im Gurkenbeet“ mittlerweile ein moderner Klassiker des Krimi-Genres. Vom ersten Absatz an webt Bradley auf brillante Weise ein Netz aus Mord und Privilegien um die Protagonistin und Detektivin Flavia de Luce. Dabei ist Flavia nicht die typische britische Nachkriegs-Teenagerin. Sie hat eine Leidenschaft für Gift – und für alles, was mit Chemie zu tun hat -, die sie im Labor von Buckshaw, ihrem Familiensitz im ländlichen England, kultivieren kann. Ihre neugierige und unabhängige Art scheint sie eher von ihrer verstorbenen Mutter geerbt zu haben als von ihrem distanzierten, philatelistischen Vater.
Diese Fähigkeiten erweisen sich als nützlich, als ein Mann im Gemüsegarten der Familie de Luce stirbt, nur wenige Stunden nachdem ein toter Vogel mit einem ungewöhnlichen Gegenstand im Schnabel vor der Küchentür auftaucht: einer Briefmarke. Flavia bleibt nicht untätig, während sie sich Sorgen macht, dass ihr Vater – den sie am Abend zuvor mit dem getöteten Fremden in seinem Arbeitszimmer streiten hörte – oder sein verbissen loyaler Diener und Tausendsassa Dogger etwas damit zu tun haben könnten. Mit ihrem eigenwilligen Verstand und einigen zufällig aufgeschnappten Informationen von der Polizei beginnt Flavia mit ihren privaten Ermittlungen und beginnt, dieses Geheimnis von Weltklasse zu lüften.
Das Rezept für einen fesselnden Krimi
In einer Kleinstadt wie Bishop’s Lacey gibt es nur einen Ort, an dem ein Fremder eine Unterkunft suchen kann. Aber Flavias Nachforschungen verbreiten sich schnell über die ganze Stadt, als klar wird, dass dieser Fremde nicht nur dem Vater bekannt war. Sogar Mrs. Mullet, die klatschsüchtige Köchin, hat Informationen, die ihr helfen können. Auch sie entgeht Flavias Verdacht nicht, denn es könnte ihr Schmandkuchen gewesen sein, der zwar von allen Bewohnern Buckshaws gemieden wird, der aber durchaus dem Opfer das Gift verabreicht haben könnte.
Tatsächlich entgehen nur Flavias beide ältere Schwestern ihrem Verdacht: die siebzehnjährige Ophelia, „Feely“ genannt und die dreizehnjährige Daphne, „Daffy“ genannt. Es ist nicht die familiäre Loyalität, die sie schützt, eher das Gegenteil. Die Beziehung der Schwestern ist auf amüsante Weise bissig. Flavia ist zahlenmäßig unterlegen, aber in Sachen ausgeklügelter Streiche ziemlich listenreich.
Die meiste Zeit über tragen die älteren Schwestern jedoch einfach nur zur Handlung bei, indem sie die Familiendynamik aufbauen und mit Feelys ständigem Auftrumpfen und Daffys Lesesucht für eine nette Prise Komik sorgen. Die anderen Mitglieder des Haushalts, der Vater und Dogger, leiden beide noch unter den Narben des Zweiten Weltkriegs, der gerade fünf Jahre zurückliegt. Es ist dieses Trauma, das sie mit sich herumtragen, das Flavia am meisten beunruhigt, denn ihr Vater zeigt kurze Augenblicke seines früheren, selbstbewussten Wesens, wenn er gereizt wird, und Dogger ist dafür bekannt, dass er geistige Aussetzer hat … oder sogar Schlimmeres.
In der Zwischenzeit stehen Fremde und Bewohner gleichermaßen unter der Beobachtung von Inspektor Hewitt. Nachdem er Flavia am Tatort zunächst abgewiesen hat, erkennt der Inspektor schnell, wie kompetent Flavia ist… und auch, wie sehr sie sich in Gefahr begibt. Flavia geht dem Inspektor zielstrebig aus dem Weg, während sie der Spur durch staubige Bibliotheken und verfallene Stadthäuser, Süßwarenläden und ländliche Friedhöfe und sogar bis zur Polizeiwache selbst folgt. Hier wird die Besorgnis von Inspektor Hewitt um Flavia sehr deutlich. Überschattet wird dies von der Aufregung über einen Durchbruch in dem Fall, als der Vater, der den Mord gestanden hat, Flavia von seiner Vergangenheit erzählt und sich die Puzzleteile langsam zusammenfügen. Der Vater nimmt Flavia mit in seine Erinnerungen an seine Internatszeit, in der seine Liebe zu Briefmarken begann, und an die verschiedenen Figuren, die seine steinige Karriere an der Greyminster School prägten. Während seiner Schulzeit lernte er auch die Kunst der Zaubertricks kennen. Dort, wo sich diese beiden Interessen treffen, beginnt das eigentliche Geheimnis.
Nun tritt die Geschichte in ein neues, spannendes Stadium, da sie den Charakter eines „Cold Cases“ annimmt. Und nicht nur ein „Cold Case“, sondern ein historisches, jahrhundertealtes Drama, in dem es um Arme, Könige und Briefmarken geht. Der Vater erzählt all diese Geschichten und auch seine eigene, während er in einer Zelle der örtlichen Polizei sitzt. Ein Teil der Geschichte handelt von den „Ulster Avengers“, Rächer von Ulster“ genannt, einem Paar einzigartig eingefärbter schwarzer Penny-Briefmarken, die seit ihrem Druck vor einem Jahrhundert sehr begehrt sind. In Vaters Teil der Geschichte geht es um die mysteriösen Ereignisse eines verpfuschten Schülerstreichs, in den eben eine dieser Rächer von Ulster verwickelt war.
Flavia beginnt sofort mit ihren Nachforschungen in der Greyminster-Schule, wo die Stimmung immer bedrohlicher wird, während sie sich durch die verstaubten und verschimmelten Hinweise auf ein Jahrzehnte altes Verbrechen wühlt. Nach ihrer Rückkehr nach Hause kommt Flavia langsam, aber unaufhaltsam der Lösung des Rätsels auf die Spur, das sich durch die historischen und jüngsten Ereignisse zieht und in dem Mord im Gurkenbeet gipfelt. Wie eine Chemikerin, die eine besonders schwierige Verbindung sorgfältig destilliert, ist Flavia in der Lage, die wesentlichen Elemente von Ablenkungsmanövern zu unterscheiden.
Die Struktur der Erzählung ist tadellos, und Bradley ist ein Meister darin, Stimmung und Charakter zu erzeugen. Es scheint, als ob jeder Satz im Gesamtzusammenhang des Romans entstanden ist. Von den ersten Worten an verwendet er beispielsweise Farb-Metaphern, um die Erzählerin Flavia zu beschreiben.
Flavia selbst ist eine fabelhaft humorvolle und komplexe Figur. Ohne Mutter – oder, in vielerlei Hinsicht auch ohne Vater – ist sie einsam, obwohl sie nicht allein ist. Wenn man ihr dabei zusieht, wie sie ihre Unabhängigkeit behauptet und gleichzeitig Einblicke in ihre Verletzlichkeit erhält, kann man Doggers und Hewitts Beschützerinstinkt noch mehr erfassen. Es gibt eine Reihe von ergreifenden Momenten, in denen man an die Zerbrechlichkeit unter ihrer harten Schale erinnert wird.
Alan Bradleys „Mord im Gurkenbeet“ ist ein Juwel von einem Buch, trotz des bescheuerten aber nicht ganz falschen Titels. In dieser raffinierten Geschichte finden sich immer wieder Wendungen, über die man staunen – und oft auch schmunzeln – muss. Mit Flavia de Luce hat Bradley einen neuen Archetypus der kriminalistischen Detektivin geschaffen, von der gerade jetzt, da die Reihe abgeschlossen ist – etwas auf Myrtle Hardcastle übergegangen ist, wenn auch in einer ganz anderen Weise.
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