Es wurde behauptet, dass Miévilles „Perdido Street Station“ die Regeln der Fantasy verändert haben soll, obwohl bis heute nicht erkenntlich wird, was damit gemeint sein könnte. Dieser Anspruch wird natürlich von einigen Fans gestützt, andere Leser aber eher bedauerlich langweilen. Es kommt darauf an, welchen Standpunkt man gegenüber dieser Art der Fantasy einnimmt. Miéville beschreibt sich selbst als „Geek“ und sagt, dass Geeks in der Lage seien, ihre Kräfte für das Gute oder das Böse einzusetzen. Nun, das können auch Nicht-Geeks.
Bei „Die letzten Tage von Neu-Paris“ handelt es sich um Fantasy, auch wenn viele andere Begriffe kursieren mögen, die solche Texte beschreiben; allerdings um Fantasy, die ihre Reinheit mit Fakten verfälscht. Neu-Paris gibt es außer in der Fantasie des Autors natürlich nicht. Und der hat sich hier vom Surrealismus inspirieren lassen, beziehungsweise von einer surrealistischen Revolution, die außer in der Kunstwelt nie richtig in Gang kam. Die surrealistischen Maler waren interessant, originell, ungewöhnlich, einige ihrer Werke verstörend, einige davon albern – die meisten davon angenehm dekorativ und amüsant, unabhängig ihrer Absichten. Miévilles Roman ist ähnlich. Er hat den Surrealismus und seine Verbindungen zum Okkulten gewissenhaft erforscht. Miévilles Panorama ist lebendig, seine Prosa klar, manchmal elegant.
Der Roman ist angesiedelt im Marseille des Jahres 1941 und im Neu-Paris des Jahres 1950. Der Abschnitt in Marseille hat seine Wurzeln in der historischen Realität, wenn auch nicht allzu deutlich. Ein amerikanischer Ingenieur und Schüler des berüchtigten Satanisten Aleister Crowley trifft auf eine anti-nazistische Gruppe von Surrealisten, darunter André Breton. Das Ergebnis dieser Begegnung ist fantastisch explosiv und führte uns ins Jahr 1950, nach Neu-Paris.
Hier geht der Krieg zwischen den Nazis und dem französischen Widerstand weiter, in einer Stadt, die halb zerstört ist von der S-Bombe. Diese hat auch Kreaturen, Manifestationen und andere Monster, die den wildesten Halluzinationen surrealistischer Kunstwerke entspringen, befreit. Die ziehen nun bedrohlich und zerstörerisch durch die Ruinen der Stadt.
Der junger Widerstandskämpfer Thibaut wird zu dem, was man als den Helden des Romans bezeichnen kann. Von ihm erwarb der Autor (wie es scheint) Jahre später sein Wissen über diese halluzinogene Zeit, diesen unendlichen Kampf zwischen den Nazis und dem Widerstand.
Thibaut führt den Kampf zusammen mit der amerikanischen Fotografin Sam, die eine Reportage über die zerstörte Stadt macht, fort. Dazu gesellt sich eine seltsame Gestalt, die als „köstlicher Leichnam“ bezeichnet wird.
Inzwischen sind die „Kräfte der Hölle“ entfesselt, obwohl nie klar wird, was damit gemeint ist. Es mag sein, dass der Autor an die Idee von George Steiner denkt, die besagt, dass der europäische Geist die Idee der Hölle jahrhundertelang von Dichtern und Malern in einem Jenseits verorten ließ, während die Nazis die Hölle auf der Erde, im realen Leben geschaffen haben, sie seien sozusagen der zur Geschichte gewordene Mythos, die bewusste Verwirklichung einer dämonischen Tradition.
Enthusiasten der Fantasy Miévilles werden wahrscheinlich die Abschnitte im Neu-Paris des Romans bezaubernd finden; sie sind erfinderisch und einige Passagen sogar bewundernswert lebendig. Andere – und vielleicht etwas prosaische Leser – fragen sich vielleicht: „Was soll das alles?“, und werden keine Antwort auf ihre Frage bekommen. Bei aller Fantasie und allem Witz – es gibt Beispiele für beides – scheint Miéville mit diesem Roman eine Grundregel der Fiktion nicht beherzigt zu haben: Nur weil man alles tun kann, heißt das noch lange nicht, dass man auch alles tun muss.
Wenn ein Autor es nämlich versäumt, die Bedeutung zu bestimmen, ist er nur an einem aufwändigen Spiel beteiligt. Und nichts anderes ist hier der Fall. Der Roman ist clever, aber unbefriedigend. Nichts darin ist wirklich wichtig, auch wenn andere Rezensenten das anders sehen.
Miéville hat 23 Seiten Notizen hinzugefügt, die die Quellen für seine Bilder aus der surrealistischen Kunst und Literatur enthalten. Dies sind Belege für die Arbeit, die in die Entstehung seines Buches eingeflossen ist. Sie zeigen seine Ernsthaftigkeit und Intelligenz und sind äußerst interessant. Tatsächlich sind sie interessanter als die etwa 180 Seiten, die ihnen vorausgehen. Man sollte hinzufügen, dass sie auch hilfreich sind, so sehr, dass den Lesern geraten werden könnte, sie zuerst zu lesen, um ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, worum es in dem Roman oder der Novelle geht. Aber dieser Vorschlag ist natürlich selbst schon eine scharfe Kritik an diesem Buch.
Erschienen im Golkonda-Verlag.
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