Bly

125 Jahre Bly Manor

Dieses Jahr feiert eine der einflussreichsten Geistergeschichten aller Zeiten ihren 125. Geburtstag: Die Drehung der Schraube von Henry James. Die Novelle ist voller Zweideutigkeiten, lauerndem Grauen und psychologischer Bedrohung. Dabei ist die eigentliche Handlung schnell erzählt: Eine junge Frau nimmt die Stelle als Gouvernante in Bly, einem abgelegenen Herrenhaus, an. Die Kinder, um die sie sich kümmern soll, Miles und Flora, sind reizend, und zunächst scheint Bly ein Ort der sonnigen Zuflucht zu sein. Diese Idylle wird jedoch bald zerstört.

Die Gouvernante glaubt im Laufe der fortschreitenden Geschichte, dass das Herrenhaus und die Kinder von den Geistern des ehemaligen Dieners Peter Quint und seiner Geliebten, der früheren Gouvernante Miss Jessel heimgesucht werden. Es wird angedeutet, dass sie die Kinder auf eine unaussprechliche Weise verdorben haben. Das wird zwar nie explizit gesagt, schwingt aber im Hintergrund laufend mit.

Damals war das Konzept einer unzuverlässigen Erzählerin noch relativ frisch, diese Frage stellte sich nicht, man pflegte dem Gelesenen ein gewisses Vertrauen gegenüber zu bringen. Aus heutiger Sicht müssen wir uns jedoch nach der Zurechnungsfähigkeit der unbekannten Erzählerin fragen. Ist es möglich, dass diese geisterhaften Unholde eine äußere Manifestation ihrer eigenen Verdrängung und ihres vereitelten Begehrens sind?

Es ist verlockend zu vermuten, dass James 1898 eine Verbindung zum Zeitgeist herstellte, in dem die Psychoanalyse langsam Fahrt aufnahm. Man begann Gespenster nicht mehr länger als äußere Phänomene zu betrachten, sondern als tief vergrabene Sehnsüchte, die sich in der jeweiligen Umgebung abbilden. Und natürlich ist diese Leseart längst kein großes Geheimnis mehr. Liest man die Geschichte unter dieser Prämisse, wird von Anfang an klar, dass die Erzählerin durchaus zur romantischen Fantasie neigt. Und diese Fantasie könnte ihr auf dem Land mit nur ein paar Dienern und zwei Kindern durchaus zum Verhängnis geworden sein.

Im viktorianischen Zeitalter war „Hysterie“ eine gängige Diagnose für Frauen. Nahezu jedes weibliche Leiden konnte mit den anerkannten Indikatoren für Hysterie in Einklang gebracht werden, da es keine fest definierten Symptomen gab. Henry James, als Schriftsteller ein scharfer Beobachter, kannte die Symptome von psychischen und physischen Problemen nur zu genau. Seine geliebte Schwester Alice litt ein Leben lang darunter. Auch sie wurde ein Opfer der psychologischen Idiotie dieser Zeit und starb schließlich 1892. Dass James hier psychologische Tiefe verarbeitete, liegt ohnehin auf der Hand. Ein Beispiel ist die Beziehung der jungen Gouvernante zu Miles. Es wird durchaus deutlich, dass ihre Gefühle für den Jungen tiefer gehen als die einer Betreuerin.

Auf dem Höhepunkt der Geschichte erstickt die Gouvernante Miles tatsächlich mit einer Liebe, die sie für die Rettung seiner Seele hält.

Ist diese Liebe unangebracht? Ist es möglich, dass ihre Scham sie dazu bringt, das Objekt ihrer verschütteten Sünde zu ermorden?

Henry James gibt auf diese Fragen nie eine Antwort, und diese unangenehme Undurchsichtigkeit macht die Stärke der Novelle aus. Das ewig Faszinierende an dieser Erzählung ist, dass der Leser nie genau weiß, was eigentlich passiert.

Der zehnjährige Miles und die achtjährige Flora sind auf den ersten Blick auffällig perfekt, und zwar so sehr, dass es auffällig wirkt.

Sind sie einfach nur brav und diszipliniert, oder sind sie tatsächlich von etwas Bösem besessen? Benutzen die Geister der in Ungnade gefallenen ehemaligen Diener sie als Gefäße, durch die sie ihre abscheuliche Verderbtheit kanalisieren und fortsetzen können?

Die Gouvernante kommt zu dem Verdacht, dass sich hinter dem Charme der Kinder und ihrer ausgesprochen erwachsenen Höflichkeit etwas Verdorbenes und Teuflisches verbirgt. Und durch ihre Schilderungen beginnt der Leser, dieses Grauen zu teilen.

Heute ist das „unheimliche Kind“ ein Klassiker des Horrorgenres, und es gibt sicher einige Beispiele aus noch älteren Tagen, aber Henry James hat diesen Tropus bekannt gemacht. Das war um so schockierender, als dass es ganz und gar unzeitgemäß daherkam. Die Viktorianer hatten eine recht verblümte Sichtweise des Kindes; Kindheit selbst galt ihnen als Zeit der Unschuld und Reinheit. James kümmert sich nicht darum und macht den Lesern das Angebot, die Perspektive zu wechseln.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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