In einem Film von David Lynch, den jeder hasst außer mir – Twin Peaks: Fire Walk With Me – gibt es einen der verstörendsten Momente des ganzen Horrorfilm-Genres (in Cannes buhte das Publikum bei der Premiere den Film aus, aber was wissen die schon). Für sich selbst genommen ist der Film nicht nur ein unterschätztes Juwel über die letzten tragischen Tage einer jungen Frau, sondern auch einer der furchterregendsten Filme der 90er Jahre. Ohne den schrulligen Humor der Serie betrachtet ist er ein geradlinig erzählter Alptraum, in dem alle gesunden Facetten des kleinbürgerlichen Amerikas durch und durch dunkel und verrottet sind.
In einer Szene gibt Mrs. Tremond Laura Palmer ein eingerahmtes Foto von einer offenstehenden Tür („Das würde an deiner Wand sehr gut aussehen“, sagt sie zu Laura). In der Nacht, nachdem Laura das Foto erhalten hat, träumt sie etwas Seltsames. Sie geht durch die Tür auf dem Foto. Dann, während dieser Sequenz, scheint sie zu erwachen; sie liegt im Bett, wendet sich nach links und sieht neben sich im Bett ein blutverschmiertes Mädchen namens Annie liegen (Annie taucht später in der Serie auf und ist Laura im Leben nie begegnet). Annie gibt Laura einige ziemlich sinnlose Informationen und Laura lächelt versonnen und nickt. Da liegt ein misshandeltes Mädchen in meinem Bett, und das ist völlig in Ordnung, alles in Ordnung, überhaupt kein Problem. Laura wendet sich ab, und als sie noch einmal einen Blick riskieren will, ist Annie verschwunden. Und erst das ist der Zeitpunkt, an dem Laura durchdreht.
Bis zu diesem Zeitpunkt hat Laura wesentlich Schlimmeres ertragen müssen, aber es ist dieser Augenblick, als sie im leeren Bett nach Luft schnappt, der zu den beunruhigendsten des ganzen Films zählt. Und das, weil sie kurz vorher die unnormale Anwesenheit einer blutverschmierten Frau wahrnimmt, die neben ihr liegt. Es ist jener Tausch der Reaktionen – eine blutverschmierte, fremde Frau, die neben dir liegt ist völlig normal, aber ihr Verschwinden ist der reine Horror – der für mich die Traumlogik von Alpträumen so gut einfängt. Selten stellen meine Alpträume eine sichtbare Bedrohung oder Gefahr dar; vielmehr vermischt sich darin das Erschreckende mit dem Banalen, und diese Begegnung mit dem Unzulässigen, das daraus resultiert, ist das eigentlich Unheimliche.
Vor ein paar Jahren hatte ich einen denkwürdigen Alptraum. Ich machte mich auf den Heimweg und kam zu meinem Haus, das dunkel vor mir lag. Plötzlich wurde mir klar – so wie es die Art von Träumen ist – also, ich wusste plötzlich, dass sich jemand im Haus befindet: nicht mit einem Messer oder einer Pistole, sondern im Badezimmer unter der Dusche. Die Anwesenheit von jemandem im Haus war erschreckend, aber dass da jemand ganz frech duschte, machte die Sache richtig unheimlich. Aber ich hatte auch andere Träume, in denen, objektiv gesehen, bestürzendere Dinge geschahen – die Gesichter von geliebten Personen verzerrten sich und schmolzen wie das des Bösewichtes am Ende von Jäger des verlorenen Schatzes – und mein Unterbewusstsein hat darauf mehr oder weniger nur mit einem Achselzucken reagiert.
Der Lynch-Horror basiert auf der Annahme, dass wir die Böswilligkeit entdecken, wenn wir unter die Oberfläche unserer hübschen Vororte blicken. Das wiederholt sich in all seinen großen Werken, aber es ist komplizierter als es zunächst aussieht. In seinen besten Momenten zeigt uns Lynch, dass gleichzeitig das Normale schrecklich ist, und das Beängstigende etwas Tröstliches hat. Ein Imbiss auf dem Sunset Boulevard kann der Schauplatz eines tödlichen Alptraums sein, aber ein Baby, das aussieht wie ein vakuumgeschrumpfter Hirsch-Fötus wird irgendwie als etwas akzeptiert, das passieren kann.
Wenige Schriftsteller oder Filmemacher schaffen das so erfolgreich wie David Lynch, und das liegt vielleicht daran, weil er das übliche Horror-Setting umgeht. Die Standard Horror-Formel lautet folgendermaßen: Wir sehen das banale Leben, ein hübsches Vorstadt-Häuschen, eine glückliche Familie, vielleicht haben ein paar Jugendliche ein aufregendes Wochenende an einem See. Dann taucht das Monster auf, und wir begreifen, dass alles, von dem wir dachten, es sei sicher, nur eine Illusion war, dass der Alptraum uns schon die ganze Zeit im Visier hatte. Die Helden bekämpfen das Monster, einige werden gefressen. Irgendwann aber ist das Monster erledigt und die Geschichte ist zu Ende. Alle kehren in ihren gewöhnlichen Alltag zurück.
Aber solche Erzählungen lassen mich auch dann unbefriedigt zurück, wenn sie gut gemacht sind. Sobald der Schleier einmal fortgezogen wurde, kann man nicht mehr so tun, als wäre nichts gewesen, ganz egal, wie sehr man es auch versucht. Das schreckliche Wissen um die Dinge, die man erlebt hat verfehlen es nicht, einen Menschen für immer zu verändern. Und selbst, wenn du das Monster besiegt hast, bleibst du allein mit der Erinnerung daran.
In Lynchs Werk – gemeinsam mit ein paar anderen meiner bevorzugten Autoren wie Franz Kafka und David Cronenberg – gibt es kein Zurück, selbst dann nicht, wenn alles vorüber ist. Die denkwürdigsten Augenblicke des Schreckens finden meist an den alltäglichsten Schauplätzen statt. Orte, die für gewöhnlich Schutz vor einem Alptraum bieten. Meist liegen die schrecklichsten Dinge im Kontrast, dass sie nämlich gleichgültig hingenommen werden. Das liegt daran, weil die Dinge, die einmal entschleiert wurden, nie wieder unbekannt sein werden. Die dem Untergang geweihten Protagonisten in Lynchs Arbeiten begreifen auf unterschiedlichste Weise, dass man dem, was sich selbst als sicher und beruhigend präsentiert, besser nicht über den Weg traut. Bei einem Alptraum weiß man zumindest, wo man steht.
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