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Die Geschichte der Fantasy – Teil 2

In der letzten Folge haben wir uns die Frage gestellt, wer wohl der erste Autor war, der eine unabhängige phantastische Anderswelt erfand, und was das überhaupt bedeutet. Heute fahren wir mit unserer Suche fort.

Nehmen wir uns nun eine zweifelsfreie High Fantasy-Welt vor. George R. R. Martins Westeros. Hier finden wir die bereits erwähnte eigene Logik (Magie funktioniert oder hat einst funktioniert, Drachen existieren), als auch eine eigene Geographie, eine eigene Geschichte und eine ganze Zahl unterschiedlicher Kulturen. Hier finden wir alles, was sich im Laufe der Zeit zum Standard für moderne Fantasy gemaustert hat. Was aber ist mit den Grenzfällen?

Werfen wir einen Blick auf Mervyn Peakes „Gormenghast“. Hier finden wir eine eigenständige Geographie, eine eigene Geschichte, und Menschen, die ihre eigene Kultur leben. Die Naturgesetze aber sind die gleichen wie bei uns. Damit haben wir also drei Merkmale anstatt der vier besprochenen. Die meisten Leser würden mir recht geben, wenn ich sage, dass Peakes Welt eine eigenständige Anderswelt ist. Also sind vielleicht doch nur drei statt der angesprochenen vier Merkmale notwendig, um dieses Ziel zu erreichen.

Was ist mit „Jonathan „Strange & Mr. Norell“? Hier gibt es keine eigenständige Geographie, aber die Welt folgt ihrer eigenen Logik und ihrer eigenen Geschichte. Die Menschen in ihr denken von sich wohl, dass sie Engländer sind, aber je weiter man das Buch liest, kommt man zu der Erkenntnis, dass es sich dabei nicht um Engländer handelt, wie wir sie kennen. Es sind Engländer in einem ziemlich absonderlichen England, das nicht zu unserer Welt gehört (natürlich geht es im Buch um das Reflektieren von englischen Verhaltensweisen, aber das wird durch eine Darstellung jenseits unserer wirklichen Welt erreicht).

Gehen wir noch etwas weiter: Es gibt Elfen im Buch, und die haben ganz sicher ihre eigene Kultur. In der Hauptsache jedoch erkennen wir die Figuren als geprägt von einer Geschichte, die durch die Abwesenheit von Magie und den Krieg mit den Elfenländern im Hintergrund abläuft. Das zeigt uns ziemlich eindeutig, dass es sich nicht um unser England handeln kann. Clarkes Buch weist also, wie „Gormenghast“, ebenfalls drei Merkmale auf.

Gibt es weitere Grenzfälle? Was ist mit Alice im Wunderland? Es gibt einen verbindenden Faden zu unserer Welt, aber im Sinne unserer Übung: hier gibt es eine eigenständige Logik. Hier gibt es Bewohner mit ihrer eigenen Kultur, und uns wird ganz schnell klar, dass sie sich völlig unterschiedlich zu uns verhalten. Es gibt eine rudimentäre Geographie, aber keine Geschichte, die der Rede Wert wäre. Aus diesem Grunde wirken die Figuren sehr statisch. Wir kommen also ebenfalls auf nur drei Merkmale.

Und was ist mit der Fortsetzung? Die Welt, die Alice hinter den Spiegeln vorfindet, besitzt natürlich ebenfalls wieder ihre eigene Logik, nach der sich die Figuren verhalten, allerdings gibt es keine Geographie. Das Räumliche existiert hier nicht wirklich, und die Zeit … folgt hier auch ihren ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten. Alberto Manguel stellt in seinem Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur fest:

„Weil die Zeit hinter den Spiegeln sowohl rückwärts als auch vorwärts fließt, ist es möglich, sich an Begebenheiten zu erinnern, die erst viel später geschehen werden.“

Das ist problematisch. Wir können die Welt nur als Ganzes begreifen, wenn sie sich durch ihre Geschichte in einer Entwicklung befindet, die nachvollziehbar bleibt. Ist das nicht der Fall, gibt es diese Welt so gut wie gar nicht, sie bleibt ein jähes Aufblitzen von willkürlichen Aktionen. Das Verhalten der Figuren in einer solchen Welt gründet sich in diesem Fall ebenfalls nicht auf Entwicklung. Sind wir der Meinung,  Alice hinter den Spiegeln erfülle drei Merkmale (Logik, Geschichte, Gesellschaft), dann finden wir hier eine unabhängige Fantasy-Welt vor. Akzeptieren wir aber nur zwei dieser Merkmale, haben wir keine gültige Welt vor uns.

Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück zu Hardy und Faulkner. Wie wir gesehen haben, gibt es in deren Werk keine unabhängige (Fantasy) Logik, die Figuren dort verhalten sich wie Menschen unserer Welt, oder zumindest so, dass wir nachvollziehen können, wie sich Menschen unserer Welt verhalten würden. Die Geographie ist phantastisch, aber nur Faulkner verpasst seiner Imagination eine eigene Historie. Selbst dann stehen wir nur zwei unserer Merkmale gegenüber, was ausschließt, dass wir es hier mit einer vollständigen Fantasy-Welt zu tun haben.

Wie verhält es sich mit Fantasy, die nicht in einer anderen Welt angesiedelt ist? Nehmen wir als Beispiel Dracula. Es gibt eine phantastische Logik: Vampire existieren, sie haben eine Geschichte. Van Helsing hat sie studiert und weiß Bescheid über die Regeln, nach denen sie leben. Die Geographie aber ist jene aus unserer Welt, und wir erkennen die Protagonisten als Europäer. Mit anderen Worten, die fiktive Welt des Buches imitiert unsere eigene Welt und versucht nicht, eine neue zu erfinden.

Inwiefern hilft uns das mit Morris weiter? „Die Quelle am Ende der Welt“ hat ihre eigene Logik, es gibt Magie. Hier finden wir eine eigene Geschichte vor, aber die Geographie lässt uns zu dem Schluss kommen, dass wir hier unsere eigene Erde vorfinden, inklusive Rom und Babylon. Was ist mit den Menschen dieser Welt? Wie verschieden sind sie von Menschen der realen Welt? Offensichtlich wirken sie wie Europäer im Mittelalter (was auf viele Fantasy-Werke zutrifft). Sind sie das vielleicht sogar? Sie besitzen eine spezifisch christliche/katholische Kultur, es gibt Heilige, Priester, Rom undsoweiter. Liest man das Buch, glaubt man nicht, dass sich Menschen im Mittelalter der realen Welt im großen und ganzen anders verhalten hätten. Alles in allem wirkt die Quelle am Ende der Welt wie ein Historienroman und nicht wie Fantasy.

Sollte das richtig sein, finden wir hier nur zwei Merkmale anstatt vier. Das bedeutet, dass die Geschichte nicht unabhängig genug ist, um eine eigene Welt darzustellen. Es ist Fantasy, aber weit davon entfernt, High Fantasy zu sein, wie uns manche Stimmen weiß machen wollen.

Die Tatsache, dass die dortige mittelalterliche Gesellschaftsform, inklusive der Christenheit, sich nicht von einem real existierenden Mittelalter unterscheidet, legt die Vermutung nahe, dass Morris auch gar nichts anderes im Sinn hatte, als sich an seine Inspirationsquellen zu halten: die frühmittelalterlichen Romanzen. Der Weltentwurf liegt somit näher an Yoknapatawpha County (also jenem fiktiven Landstrich, der von Amerikanern bevölkert wird, dazu gedacht, das tatsächliche Amerika abzubilden) als an Tolkiens Arda (einem Landstrich, bevölkert von mittelalterlichen Menschen ähnlich den Europäern, aber nicht dazu gedacht, sie als Europäer oder wie Europäer handeln zu lassen).

Wir suchen also weiter nach dem ersten, der eine komplett unabhängige und eigene Welt erschaffen hat, nach der ersten High-Fantasy-Welt. Morris erfüllt einfach nicht die ihm zugesprochenen Voraussetzungen, also müssen wir uns weiter bemühen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen.


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