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Niemals ist etwas Schreckliches geschehen

Victoria Amelina * 1.1.1986 in Lviv – † 1.7.2023 in Dnipro.

Ukrainische Phantastikautorin; getötet durch einen russischen Raketenangriff auf ein Restaurant. Sie sagte, kein Autor sei jemals wirklich vergessen, solange er gelesen wird – sorgen wir dafür, dass Amelina nicht in Vergessenheit gerät!

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Victoria Amelina; Foto von Daniel Mordzinski; Hay-Festival

Niemals ist etwas Schreckliches geschehen

Übersetzung mit freundlicher Genehmigung Askold Melnyczuk, Arrowsmith Press.

Der Plot ist ein Klischee: Der Protagonist zieht in ein altes Haus. Am Anfang geht alles gut, aber schon bald erfahren wir, dass dieses Gebäude der Schauplatz eines grausamen Mordes war. Das Verbrechen geschah bereits vor langer Zeit; die Mörder stellen keine Gefahr mehr dar. Dennoch gerät der Protagonist in Schwierigkeiten – im Haus spukt es. Die Vergangenheit hat den Ort vergiftet.

Vor solchen Entwürfen habe ich mich nie besonders gegruselt. Möglicherweise liegt es daran, dass ich aus Osteuropa stamme. Falls ein grausamer Mord ausreichen sollte, um ein Spukhaus zu erschaffen, dann gäbe es in meiner Heimatregion ganze Spukdörfer, Spukstädte und Spukländer.

Der Historiker Timothy Snyder nannte sein Buch über die Landstriche zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin.1 Darin erstellt er eine Chronik: Wie die beiden Regime ihre utopischen Projekte in meinem Heimatland, der Ukraine, verfolgten und dabei Millionen ermordeten. Der Rote Terror und der Ukrainische Genozid – bekannt als Holodomor –, die Massentötungen polnischer Offiziere 2 und die sogenannte Exekutierte Renaissance 3, womit das Verschleppen und systematische Abschlachten Hunderter nationaler Autoren bezeichnet wird, der Holocaust und andere Massenmorde der Nazis – all das geschah hier, in den Landstrichen, die ich mein Zuhause nenne. Und all diese Taten ließen die Region in den 1930ern und 40ern zum tödlichsten Ort des Planeten werden.

Diejenigen, die nicht sofort ermordet wurden, verschwanden auf andere Weise. Einige wurden deportiert, andere flohen, verließen die Orte ihrer schmerzvollsten Erinnerungen sowie die Gräber ihrer Familien und zogen stattdessen an Orte, die mit den geisterhaften Erinnerungen Fremder aufgeladen waren. Gehen wir von dieser Standardformel des Horrorfilms aus, ist es möglich, ganz Osteuropa als ein einziges gigantisches Spukhaus zu begreifen.

Selbstverständlich ist es kein tatsächliches Spukhaus – oder zumindest nicht direkt. Dennoch vermitteln entsprechende Horrorgeschichten eine zugrundeliegende, verborgene Wahrheit: Die Vergangenheit sucht uns tatsächlich heim 3, selbst wenn wir sie nicht direkt in unserer eigenen Familiengeschichte verankern können. Auch wenn unsere persönlichen Familientragödien und ihre Toten woanders verortet sind, werden die Orte, an denen wir leben, ein Teil von uns, und wir erben ihre Historien. Einige Orte werden sogar so sehr vom Spuk heimgesucht, dass sie ein sogenanntes sekundäres Trauma hervorrufen können. Auf jeden Fall fühlt sich die Stadt Lviv genauso für mich an: Sie ist wie ein Familienmitglied, dessen grausame Historie nun Teil meiner eigenen Geschichte ist. Und dies schließt auch den Holocaust ein.

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Credit: Oksana Astrakhantseva: FB-Seite Amelina.

Meine Heimatstadt befindet sich in der westlichen Ukraine und damit im Zentrum der Bloodlands. Lviv wurde im Jahr 1256 von Danylo, dem König Rutheniens, gegründet. Die deutschsprachige Welt mag es als Lemberg und Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erinnern. Die Polen nennen dieselbe Stadt Lwów. Während der überlangen Existenz der Sowjetunion wurde Lviv russifiziert und viele der neuen Zuzügler nannten es nun L’vov.

Meine Großeltern zogen in den 50ern und 70ern dorthin, ließen ihre eigenen Familiengeschichten über die todbringenden 30er und 40er in der Zentral- und Ostukraine zurück – dort, wo das Epizentrum des Genozids durch forcierte Hungersnot lag. Zu der Zeit, in der sie sich in Lviv niederließen, lebte von der Bürgerschaft der Vorkriegszeit kaum noch jemand. Nur eine Handvoll verbliebener Angestammter hätten Augenzeugenberichte davon abgeben können, wie die Stadt und das Leben in ihr vor dem Krieg ausgesehen hatte. 1939 noch war Lviv die Heimat von ungefähr 110.000 jüdischen Bürgern, die ein ganzes Drittel der Population ausmachten. Nach 1945 verblieben in der Stadt nur weniger als eintausend Überlebende.

In der Sowjetunion existierten keine Gedenktage für den Holocaust. Denn wenn man einen Genozid identifiziert und entsprechend definiert, ist man in der Lage, auch andere Verbrechen als Genozid zu erkennen. Das Regime wollte nicht, dass wir etwas von unserer eigenen Historie erfahren. Jahrzehntelange sowjetische Erziehung und Zensur garantierten, dass selbst nach dem Zusammenbruch der UdSSR viele Menschen in Lviv übersahen, dass der Holocaust in bemerkenswerter geografischer Nähe stattgefunden hatte. Lange Zeit ähnelten die Einwohner von Lviv jenem unwissenden Bewohner eines Spukhauses, dessen Geister sich noch nicht zu erkennen geben. Tatsächlich war ich einer dieser Menschen – obwohl ich in diesem Fall nicht die Käuferin des Hauses war: Ich wurde 1986 in Lviv geboren.

Als Kind verliebte ich mich in die Stadt. Ich spielte in dem alten Park nahe dem Haus meiner Großeltern, wo ich zusammen mit meinen jungen, mittellosen Eltern wohnte. Im Gegensatz zur klaustrophobischen Sowjetarchitektur lag ihre Wohnung in einem historischen Stadtteil, hatte hohe Decken, großzügig bemessene Räume und alte Fensterrahmen mit glänzend goldenen Griffen.

Ich spazierte durch die Stadt, ohne die kleinen diagonalen Symbole an den Türrahmen zu bemerken — die Stellen, an denen jüdische Bürger ihre Häuser mit Mezuzahs markiert hatten. Ich hatte von der großartigen alten Synagoge gehört, die einst im Herzen der Stadt gestanden hatte, aber alles, was ich sah, waren Steine, Schutt und eine Baulücke.

Als wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neue, überarbeitete Schulbücher auf Ukrainisch erhielten, ging der Begriff Holocaust in unseren Wortschatz ein. Auch wurden wir uns zum ersten Mal des Ausmaßes der Morde durch die Sowjets bewusst. Auf einmal gab es neue Fakten zu lernen, um unsere Geschichtsklausuren zu bestehen. Und dennoch war es mir lange unmöglich, die schreckliche Vergangenheit mit dieser schönen Stadt in Verbindung zu bringen – oder mit den blühenden Kastanienbäumen direkt vor unserem Fenster. Die Opfer besaßen weder Namen noch Adressen; an den Gebäuden waren keine Gedenktafeln angebracht, es gab keine Mahnmale, keine Museen, die die Wahrheit über das Gemetzel öffentlich gemacht hätten.

Es dauerte lange, bis ich mich fragte, wer eigentlich in der Wohnung meiner Großeltern gewohnt hatte, bevor sie einzogen. Was war mit diesen Menschen geschehen? Welches Schicksal hatte sie ereilt?

Die Historie der Bloodlands bedeutete eine Vielzahl von Möglichkeiten, was den Verbleib der ehemaligen Bewohner betraf. Nicht alle stimmen positiv. Waren es Polen, die wegen der Sowjetpolitik fliehen mussten? Gehörten sie zur ewig verfolgten Ukrainischen Elite, die in den hohen Norden deportiert wurde? Oder vielleicht waren es Juden und wurden schließlich im Ghetto von Lviv ermordet? Ich konnte nicht aufhören mir vorzustellen, dass mir vielleicht das Unglück oder gar der Tod anderer gestattete, innerhalb dieser Wände zu spielen, durch den alten Park im Herzen der Stadt zu schlendern. Und ich weiß es bis heute nicht. Selbst wenn die ehemaligen Mieter gerade unserer Wohnung zu den wenigen gehörten, die entkommen konnten, teilten mit Sicherheit nur wenige ihrer Nachbarn dieses Glück.

Dieser Tage treffe ich immer wieder meine „Nachbarn“ – jene, die nahe des alten Parks wohnten, in einer anderen Ära vor dem Zweiten Weltkrieg. Wir verpassten einander in der Zeit, daher sind Bücher der Ort, an dem wir uns begegnen. Zu unseren nächsten Nachbarn gehörte die Familie von Philippe Sands, die ein Apartment gleich um die Ecke bewohnte. Sands ist der Autor des Buches Rückkehr nach Lemberg: Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.5 Dieses brillante Werk behandelt das Leben und Wirken Raphael Lemkins und Hersh Lauterpachts – der beiden Anwälte, die eine zentrale Rolle bei den Nürnberger Prozessen spielten und dabei die Grundlage für unser heutiges Verständnis von Menschenrechten schufen. Ohne diese beiden Männer – die zufällig ebenfalls in Lviv lebten und studierten – wäre die heutige Welt eine ganz andere. Das Gleiche gilt für mich und meine Familie.

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Kharkiv; Quelle Victoria Amelina FB-Seite

Richard Lemkin, einer der Anwälte, über die Philippe Sands schrieb, prägte den Begriff Genozid, um die systematische Vernichtung einer Nation zu beschreiben. Auch meine Familie überlebte etwas, das wir nun – dank Lemkins Arbeit – als Genozid bezeichnen müssen. Selbstverständlich beziehe ich mich hierbei auf den Holodomor, jene Hungersnot, die Stalin in den Jahren 1932-33 plante und durchführte. Ohne Lemkin wäre ich wahrscheinlich gar nicht in der Lage, das Schicksal meiner Familie so zu betrachten, wie ich es heute tue. Ich verfügte ebenso wenig über eine Sprache, mittels derer ich Stalins Verbrechen verstehen und kategorisieren könnte. Und so stelle ich Verbindungen her zwischen dem Holodomor, den meine Familie in der Ost-Ukraine erleiden musste und dem Holocaust in meiner Heimatstadt Lviv. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die in Lviv gelebt und dort geliebte Menschen verloren hatten, mir halfen, meine eigene Familiengeschichte zu verstehen und meine eigenen Verluste zu betrauern.

Es fühlt sich mehr als nur ein bisschen nach einem Wunder an, dass ich diese Verbindung dank eines Buches ziehen konnte, das offenbar von dem Nachkommen einer meiner “Nachbarn” geschrieben worden war. Am Anfang seines Buches beschreibt Sands, wie er auf einer Parkbank sitzt, auf der sein Großvater Leon möglicherweise ein Jahrhundert zuvor ebenfalls gesessen haben mochte. Und zufällig ist dies auch dieselbe Bank in demselben Park, in dem ich als Kind spielte – nur wenige Tage vor Zusammenbruch der Sowjetunion.

Sands und ich teilen uns diesen Park mit einem weiteren Kind der 1920er – dem gefeierten polnischen Autor und Philosophen Stanisław Lem. Er war ein großer Denker und wohl am bekanntesten für seinen Science-Fiction-Roman Solaris, der später von den Filmemachern Andrei Tarkowski (1972) und Steven Soderbergh (2002) adaptiert wurde. Stanisław Lem gehörte zu den wenigen Menschen jüdischer Herkunft, die den Holocaust überlebten. Er wollte nie direkt über seine Erlebnisse sprechen oder schreiben und kehrte niemals nach Lviv zurück. Aber dieser stille “Nachbar” wurde für mich als Autorin immens wichtig. Ich wollte verstehen, wo sich das Schweigen über verschiedene Genozide überschneidet, wo sich Parallelen finden lassen. Als ich es mich endlich traute, über die Überlebende des Holodomor zu schreiben, die nun in der Wohnung von Holocaustüberlebenden wohnte, wählte ich als Schauplatz für meinen Roman 6 ganz genau Stanisław Lems Apartment in Lviv, das nahe dem alten Park liegt, den wir “Nachbarn” alle gleichermaßen nutzten.

Dieser alte Park spielt auch eine Rolle in dem Essay “Mein Lviv”, das der polnische Dichter Josef Wittlin verfasste. Seine Worte über die Stadt hatten mich sehr stark beeindruckt: “Lasst uns Idylle spielen,” schrieb er im Jahre 1946. “Lasst uns so tun, als ob seit unseren Kindertagen niemals etwas Schreckliches geschehen ist – weder in Lwów, noch irgendwo sonst auf der Welt.” Moment, dachte ich damals – war dies nicht genau das Spiel, das ich jahrelang selbst gespielt hatte?

Ich hatte erwartet, dass meine “Nachbarn” Geschichten über die Straßen erzählen, die wir schließlich miteinander teilten. Aber zu meiner Überraschung erzählten sie mir auch Geschichten über mich selbst.

Dieser Tage kann ich die Spuren der Mezuzahs nicht mehr übersehen. Jedes Mal, wenn ich in die Wohngegend komme, in der einst das Ghetto stand, sinne ich über seine Historie nach.

1992 wurde ein Denkmal errichtet und es markiert das bittere Erbe dieses Viertels. 2016 wurde endlich eine richtige Gedenkstätte in einem der leerstehenden Blocks eröffnet – genau dort, wo früher die majestätische Synagoge Goldene Rose gestanden hatte. Aber wie man nun den Ort genau gestalten sollte, entfachte Diskussionen. Einige plädierten für den Wiederaufbau der Synagoge. Andere wünschten sich Zitate von Überlebenden, die vor Ort in die Steine eingemeißelt werden sollten, ebenso aber auch die Nationalitäten der Nazi-Kollaborateure.

Das Monument veränderte den Ort vollständig, aber es wird niemals die Historie verdrängen können, die es markiert. Die Geschichten der Toten und die Erinnerungen, das Gedenken an sie, sollen kein Gespräch darüber ersetzen oder verhindern, sondern eines anstoßen. Wir sollten immer noch über die Vergangenheit reden. Sehr oft und ausgiebig. Wir können einander helfen, unsere Toten zu betrauern, so wie Raphael Lemkin und Hersch Lauterpacht mir und Millionen anderen auf der Welt halfen, unabhängig von Nationalität und Wohnort.

Wie kann ich mich für diesen Gefallen erkenntlich zeigen, was habe ich zurückzugeben? Als Bürgerin von Lviv möchte ich Verantwortung für die Historie der Stadt übernehmen – mit all ihren Geschichten, den schönen und den hässlichen, und mit all ihrer Schuld. Als Autorin kann ich dem Schweigen lauschen, das aus der Erde unter der Stadt aufsteigt, und alles in meiner Macht Stehende tun, um es in eine Sprache zu übersetzen, die auch die Lebenden verstehen.

Keine Stadt ist verdammt, für immer ein Spukort zu sein. Wir brechen den Fluch nicht, indem wir die Geister bannen, sondern indem wir sie zum Frühstück einladen. Ein wahres Heim ist der Ort, an dem du deine Nachbarn mit Namen kennst. Einschließlich jenen, die getötet wurden und jenen, die halfen sie zu töten, denen, die überlebten und denen, die das Leben ihrer Familien riskierten, um die Gejagten zu retten. Heute habe ich solche Nachbarn – sowohl die lebenden wie auch die toten, von denen ich lerne, über die ich schreibe und an die ich meine Texte richte.

Mein “Nachbar” Stanisław Lem, der Holocaust-Überlebende, vermied es, direkt über seine Erinnerungen an den Genozid zu schreiben. Als Science-Fiction-Autor schrieb er stattdessen über die Menschheit als Ganzes, unsere gegenseitige Schuld, und über die Unmöglichkeit, eine zweite Chance zu erhalten. Und nun bin ich ebenfalls unsicher, ob wirklich jede Person eine zweite Chance erhalten sollte – Verbrechen gegen die Menschheit und Genozide sind eben genau unentschuldbare Verbrechen. Aber ich glaube, dass jede Stadt eine zweite Chance erhalten kann, wieder ein Zuhause zu werden: Ein Ort für idyllische Kindertage zukünftiger Generationen, ein Ort, an dem wir unsere guten Nachbarn kennen und ehren – über die Epochen hinweg.

Victoria Grab
Olena Znak Anadolu via GettyImages

Quellen & Anmerkungen, Kurzbiografien

Victoria Amelina: „Nothing Bad Has Ever Happend“ in Arrowsmith Journal Vol. VII. Massachusetts o. J.

1 Timothy Snyder: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. New York 2010 | Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. C.H. Beck, München 2011.

2 Polnische Offiziere sowie Angehörige der Intelligenzija, 1940 im Wald von Katyn, in Gefängnissen von Kalinin und Kharkiv, wobei 22.000 Menschen erschossen wurden.

3 Exekutierte Renaissance (Rosstriljane widrodschennja): Der Schlag Stalins gegen die Ukrainische Intelligenzija, wobei geschätzte 250 Autoren, Dichter Dramatiker und Künstler zwischen 1930-40 verhaftet und durch Erschießen oder GULAG-Internierung ermordet wurden. Einige wenige begingen Suizid, andere konnten fliehen. Die Bewegung setzte sich mit Betonung der Ukrainischen Sprache gegen die Russifizierung des Sowjetischen Regime zur Wehr; betonte die eigene Geschichte, Philosophie und Kultur. Ihre Zerschlagung war Teil der Stalinistischen Säuberungen, die erst nach dem Tod des Diktators abklangen (im Hinblick auf Putins Praktiken muss man eher sagen: vorerst abklangen).

4 Jacques Derrida begründete das Konzept der Hauntology in: Spectres de Marx: l’état de la dette, le travail du deuil et la nouvelle Internationale. Éditions Galilée, Paris 1993 | Marx‘ Gespenster. Fischer, Frankfurt am Main 1996. Zum Thema Trauer / Erinnerung auch Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt am Main 1979; Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Wien 2007; Feuer und Asche. Berlin 1988.

5 Philippe Sands: East West Street: On the Origins of Genocide and Crimes against Humanity. Weidenfeld & Nicolson, London 2016 | Rückkehr nach Lemberg: Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018.

6 Victoria Amelina: Дім для Дома (Ein Haus für Dom, wörtl. Ein Heim für Zuhause). Видавництво Старого Лева, 2017; übersetzt bislang nur ins Polnische und Spanische.

Kurzbiografien

Victoria Amelina (erweiterter Text des Arrowsmith-Verlags):

Ukrainische Autorin mit Schwerpunkt Spekulativem Realismus, sie schrieb zudem Essays und journalistische Beiträge. Ihr ursprünglicher Abschluss war im IT-Bereich, zuvor hatte sie einige Jugendjahre in Kanada verbracht, bis sie es in ihre Heimat zurückzog.

Sie gewann den Joseph Conrad Literature Prize für ihre Prosawerke, darunter die Romane Ein Haus für Dom und Das November Syndrome, oder der Homo Compatiens (keine deutschen Übersetzungen) und war die Finalistin beim European Union Prize for Literature.

Amelina gründete das New York Literature Festival, das in einer Kleinstadt namens New York (Region Donetsk) stattfand [Der Veranstaltungsort, eine Bibliothek, wurde inzwischen durch russische Bombenangriffe zerstört.]. Nach der Invasion von 2022 organisierte das Team anstatt des Festivals die Spendeninitiative „Bekämpft sie mit Lyrik“, um Einheiten der ukrainischen Armee, die die Region verteidigten, zu unterstützen. Im Jahr 2022 absolvierte die Menschenrechtsaktivistin eine Ausbildung zur War Crimes Researcher (Dokumentation und Analyse von Kriegsverbrechen), wofür sie zusammen mit der ukrainischen Organisation Truth Hounds Beweise für russische Kriegsverbrechen sammelte und sich dafür einsetzte, dass die Russische Föderation für die internationalen Verbrechen ihrer Truppen im Hoheitsgebiet der Ukraine und anderer Länder zur Rechenschaft gezogen wird.

Während einer solchen Mission hielt sie sich am 27. Juli in Kramatorsk auf, 55 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Amelina saß gerade mit einer kolumbianischen Autorendelegation im Restaurant, als das Gebäude von einer russischen Iskander-Rakete getroffen wurde. Bei dem Angriff starben 13 Menschen, 60 wurden verletzt – unter ihnen Amelina.

Joanna Kakissis, eine Bekannte von Amelina, sprach mit der kolumbianischen Autorin und Augenzeugin Catalina Gomez. Diese erzählt, dass der Staub sich legte und sie Amelina immer noch auf ihrem Stuhl vorfanden, so, wie sie vor dem Einschlag gesessen hatte: „Wir sahen, dass sie sich nicht bewegte. Ich schrie ihren Namen, viele Male, in der Hoffnung, sie würde eine Reaktion zeigen.“ Victoria Amelina sollte nie wieder erwachen, sie erlag vier Tage später im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen. [„Remembering Ukrainian Novelist Victoria Amelina, Killed by a Russian Missile“. NPR.org vom 7.7.2023]

Zuletzt arbeitete Amelina an der Fertigstellung ihres ersten Sachbuches mit dem Titel War and Justice Diary: Looking at Women Looking at War – das die Erlebnisse von Frauen während des Krieges sowie die russischen Kriegsverbrechen in besetzten Gebieten behandelt.

Außer Karkissis‘ zitiertem Beitrag – der auch ein Interview mit Amelina beinhaltet – noch empfehlenswert:

Für PEN sprach am 5. März 2022 die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen (spekulativer Realismus zu historischen sowie aktuellen Themen zum okkupierten Estland, der Ukraine) mit Amelina: Dialogues on War, 45-minütiges Video. Link: https://www.facebook.com/events/475570904198373?ref=newsfeed

Kate Tsurkan: „How a Celebrated Ukrainian Writer Turned into a War Crimes Researcher“ auf kyivindependent.com, 27. April 2023. Link: https://kyivindependent.com/how-a-celebrated-ukrainian-writer-turned-into-a-war-crimes-researcher/

Nachruf der Prosa-Autorin und Lyrikerin Oksana Lutsyshyna auf ihre langjährige Freundin: „Every Wave Is For You“ auf kyivindependent.com, 12. Juli 2023. Link: https://kyivindependent.com/oksana-lutsyshyna-every-wave-is-for-you/


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