Blond, kühl und chic, so wollte er die Frauen, der Master of Suspense. Kim Novak wollte er für Vertigo nicht. Diese Ausnahme-Schönheit, so genial antastbar unter ihrerer Makellosigkeit, war (trotzdem!) die Idelabesetzung. Perfekt als Madeleine, gleichsam authentisch als die brünette Judy, das nette Mädchen ohne Allüren, erkennbare Psychosen und Hitchcock-Eleganz. Den edlen Look trug die blonde Madeleine, gespielt von Judy, gelebt von der Novak, diesem Typ Frau, der wortlos eine Bar betritt, eine Zigarette aus dem goldenen Etui zieht…und ein Dutzend Männer lassen die Feuerzeuge aufschnappen und phantasieren, wo sie sitzen, was sie trinken, wen sie ansehen würde. Ein Blick. Der Himmel.
Aber eben nicht für Alfred Hitchcock. Der wünschte sich für Vertigo – Aus dem Reich der Toten (Vertigo: lat. Schwindel) Vera Miles in der Hauptrolle, seine Rose Balestrero aus Der falsche Mann (1956). Die aber war schwanger, musste absagen und machte damit den Weg für die Unwillkommene frei. Die war brillant, am Set zeigte man sich begeistert (bis auf einen). Am Ziel freilich stand, so fair es auch gewesen wäre, (noch) kein Siegertreppchen, Vertigo erfüllte kaum die hineingesteckte Hoffnung. Brutal gesagt, floppte er vor allem finanziell, und wenngleich auch Regiaarbeit und schauspielerische Leistung allseits positiv genannt wurden, so fehlte es vielen Kritikern und eben auch Zuschauern an Logik und konsequenterer Spannung. Ich selbst merke hier bescheiden an, dass ich Vertigo in noch recht jungen Jahren, – wie eigentlich die meisten Hitchcock-Filme, die damals im als Familientauglich geltenden (war aber nicht immer so!) Abendprogramm liefen – , zum ersten Mal gesehen und auch nicht so hundertprozentig verstanden hatte. Ich schiebe das auf noch kindliche Leichtigkeit im Umgang mit Angelegenheiten, die Konzentration erwarten dürften. Aber spannend fand ich ihn schon vor dieser Ewigkeit allemal. Nur nebenbei…
Dass sein Film, erst sehr viel später hochgelobt als ganz großes Kino, 1958 an den Kassen der Lichtspieltheater keine Besucherströme erzeugte, schob Hitchcock seinen Hauptdarstellern, Kim Novak und dem ihm zu alt gewordenen (!) James Stewart, den er zum vierten und tatsächlich letzten Mal vor seine Kamera geholt hatte, in die Schuhe. Selbst als Anfang der 1980er Vertigo wiederentdeckt wurde und letztendlich auch den zweifellos verdienten Ruhm als Meisterstück erzielte, äußerte sich der große Regisseur immer noch unzufrieden über seine Star-Besetzung. Die Novak, schön, schlau und gar nicht zart besaitet, nahm’s zumindest öffentlich achselzuckend hin. Und dachte, sagte, lächelte:
„Eine Schauspielerin, die Erfolg haben will, muss die Schönheit einer Aphrodite, die Klugheit einer Athene, das Gedächtnis eines Elefanten und das dicke Fell eines Rhinozerosses haben.“
An den prägnanten Stellen lässt Vertigo den Zuschauer, – nomen est omen, natürlich – , regelrecht taumeln. Zumindest im Kopf. Das liegt an der genialen Kombination von Kamerafahrten und Zoom, eine Technik, die simuliert, was das gefühlsmäßig bedeutet: Zu glauben, den Grund unter den Füßen zu verlieren, nicht hinuntersehen zu dürfen, um nicht abzurutschen, ins Leere zu greifen, zu fallen.
Und eben im Sinn des gewünschten Vertigo-Effekts startet der Film, geheimnisvoll atmosphärisch unterlegt von der Musik Bernard Hermann’s, Hitchcock’s Lieblingskomponisten, auch ordentlich schwindelerregend: Der an panischer Höhenangst leidende Polizist John „Scottie“ Ferguson ist nicht in der Lage, seinen Partner bei einem Einsatz über den Dächern von San Francisco vor dem tödlichen Sturz in die Tiefe zu retten. Geniale Eingangsszene, der Zuschauer ist ganz oben, ergo sofort mittendrin, und schnappt erstmal nach Luft. Fragt sich vielleicht freilich auch, warum Scottie nicht gleich Sheriff auf dem flachen Land geworden ist, wo er doch weiß… Unwichtig. Natürlich. Scottie macht sich Vorwürfe, quittiert den Dienst und nimmt für seinen alten Schulkollegen Gavin Elster (Tom Helmore) einen Detektiv-Job an: Er soll dessen suizidgefährdete Ehefrau Madeleine (Kim Novak) beschatten und dafür Sorge tragen, dass sie sich nichts antut. Madeleine, so Gavin, sei vom Geist ihrer Urgroßmutter Carlotta besessen, die sich mit sechsundzwanzig Jahren das Leben genommen hätte. Madeleine, nunmehr im gleichen Alter, würde sich kleiden, frisieren, geben wie Carlotta, wäre ständig an deren Grab und vor ihrem Porträt im Museum und hätte in einem Hotel in der Stadt exakt das Zimmer gebucht, das Carlottas letzte Station gewesen sei.
Scottie rettet Madeleine nach einem Sprung in die Bucht von San Francisco und verliebt sich in die bildhübsche, so traurig und verloren wirkende Madeleine, die seine Liebe erwidert. Zusammen fahren sie zu einer alten spanischen Kirche, sie steigt hinauf in den Glockenturm, er wird panisch, schwitzt, taumelt, kann ihr nicht folgen…sieht ihren Körper Richtung Boden fliegen und ist völlig verstört. Ihre Todessehnsucht war stärker. Denkt er. Denkt man.
Tatsächlich aber lebt Madeleine, die eigentlich Judy heißt und für ein Honorar inclusive Schweigegeld mit einer schauspielerischen Glanzleistung, – die ihr im Nachhinein schwerste Gewissensbisse beschert – , Scottie böse betrogen hat. Und tatsächlich trauert Gavin Elster, dem Scottie sittenstreng genommen ja Hörner aufgesetzt hat, um Madeleine auch gar nicht. Weil er die echte (!) längst ermordet hat und deren Leiche vom Glockenturm wirft, während die falsche, folglich Judy als perfekte Kopie sich dort oben versteckt. Gavin weiß von der fürchterlichen Höhenangst des alten Schulfreundes und ist sich sicher, dass sein Plan aufgeht: Scottie glaubt, die psychisch kranke Madeleine wolle sich in den Tod stürzen, fürchtet sich aber davor, ihr hinterherzuklettern und sieht, wie sie fällt. Alles scheint zu klappen. Offiziell gibt es die Leiche einer Selbstmörderin, deren Witwer, dann den Detektiv, der sie liebte und sie verloren hat und später eine junge Frau kennenlernt, die ihn an die Tote erinnert. So bleibt es aber nicht. Die Selbstmörderin ist ein Mordopfer, der Witwer ein Mörder, der Detektiv ein Betrogener, die vermeintlich Tote eine (reuevolle) Betrügerin. Ohne deren Liebe zu Scottie wäre die Sache nie aufgeklärt worden. Und Elster, der Ehemann, wäre mit einem lupenreinen Mord davongekommen. Wäre…
Zweifellos hat es perfekte Morde gegeben, sonst wüsste man ja von ihnen. (Hitchcock)
Also kein Pardon für den Schurken in Vertigo? Elsters weiteres Schicksal bleibt im Unklaren. Der verantwortliche Kopf für die Einhaltung der im Production Code festgeschriebenen Moralvorschriften für einheimische Spielfilmproduktionen befand damals, dass es unbedingt notwendig sei, den Hinweis auf Elsters Anklage klar und deutlich herauszustellen. Die für den Sieg der Gerechtigkeit vorgesehene Schlussfassung gefiel Hitchcock als Alternativlösung nicht: Der niedergeschlagene Scottie kehrt in seine Wohnung zurück, in der seine gute alte Freundin Midge (Barbara Bel Geddes) mit Drinks auf ihn wartet. Sie hat zuvor im Radio von Elsters Festnahme in Europa und der bevorstehenden Auslieferung gehört. Schweigend sitzen Scottie und Midge am Fenster und blicken in die Nacht von San Francisco.
Hitchcock setzte sich durch: Am Ende starrt Scottie, wundersam schwindelfrei, von der Turmspitze in die Tiefe. Dort unten liegt die geliebte Frau, die ihn belogen hat und der er ihre echten Empfindungen für ihn nicht abnehmen konnte. Sie stürzt, weil sie sich schuldig fühlt und in einer plötzlich auftauchenden Nonne, zuerst nur spukhaft erkennbar und wahrlich angsteinflössend in solch einer fatalen Situation, im Turm etwas „Schreckliches“ sieht, zurückwankt, fällt. Es ist ein tragischer Unfall. In der Roman-Vorlage von Pierrre Boileau und Thomas Marcejac, D’entres les morts (1954), tötet der Betrogene in seinem ohnmächtigen Zorn die Frau. Das wollte Hitchcock so nicht übernehmen. Sein Held überlebt nicht als Mörder aus Liebe, sondern als tragisches Opfer, das mit seiner Verantwortung für das Geschehene allein fertig werden muss.
Über Vertigo sagt der Nicht-Versteher, das Ganze sei wohl eher langatmiges Liebesdrama denn Psycho-Thriller. Der Versteher will, besser, muss solch fast saloppe Sichtweise korrigiert sehen. Weil er viel mehr erkennt. John „Scottie“ Ferguson (James Stewart) erschafft sich, gleich Pygmalion mit seiner Elfenbeinstatue, sein Idealbild einer Frau. Die anfängliche Sympathie ihm gegenüber, der am Tod der Geliebten schier verzweifelt und durch die Verkäuferin Judy auf seine spezielle Art zur Liebe zurückfinden will, schlägt um in Argwohn. Scottie, verklärt, egoistisch und hilflos gleichsam, „bastelt“ sich aus einer Vorlage einen Menschen. Die Vorlage ist höchst lebendig, hat echte Gefühle, spielt für ihn mit. Und leidet. So unbedingt mag man Scottie jetzt gar nicht mehr, und irgendwie findet man ihn auch diesen gewissen entscheidenden Ticken grausam, weil er Judy zwar zuerst unwissentlich, dann aber gezielt quält. Der Weg zurück zum Tatort, dem Turm der spanischen Kirche, ist für Judy wie auch für ihn die Hölle. Man weiß, das kann nicht gut ausgehen. Will man auch nicht. Es ist ein gelungenes, ehrenwertes Ende. Es ist ein großartiger Film. Und wer von den Youngsters unter uns sich an ehrenwert stört: Moral ist nicht nur Anstand. Moral ist auch, wenn alle bezahlen müssen. Einwände?
Für viele Rezensenten gilt Vertigo heute als einer der wichtigsten und persönlichsten Filme Hitchcocks, auch wenn sich sein Ruf erst im Laufe der Zeit festigte. 1965 bezeichnete Hitchcock-Kenner Robin Wood Vertigo als „das Meisterwerk“ des Regisseurs und als einen der „tiefsten und schönsten“ Vertreter des Mediums Film überhaupt.
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