Maries Innerstes kehrte sich fast nach außen, als sie versuchte, den schrecklichen Whiskygeruch zu ignorieren, der wie süßes Formaldehyd in Dr. Johnsons Atem hing. Überschüssiger Speichel machte sich in ihrem Mund bereit. Sie war an Übelkeit gewöhnt, aber in letzter Zeit wurden ihre Fingerspitzen manchmal taub, und sie fürchtete, dass ihr Herz nicht genug pumpte. Aber das spielte keine Rolle. Weder ihre Krankheit noch ihr Taubheitsgefühl spielten eine Rolle.
Wichtige war nur ihr Versprechen.
Sie hatte ihrer Schwester versprochen, sich auf jeden Fall darum zu kümmern.
Dr. Johnson, groß und kantig, als bestünde er aus knorrigen Ästen statt aus Fleisch und Knochen, streckte seine langen Glieder in einem Holzstuhl hinter seinem Schreibtisch aus. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. Sein Büro war vollgestopft mit Büchern, die die Wände vom Boden bis zur Decke bedeckten, und überall auf seinem Schreibtisch lagen Papiere. Die Uhr zeigte 1.28 Uhr.
Marie saß still da, ein vierzehnjähriges Mädchen mit nervös verkniffenem Gesicht, die Kiefer fest und entschlossen. Selbstbewusst hielt sie ihren Rucksack wie zum Schutz auf dem Schoß. Eine leichte Jacke bedeckte ihren dicken Pullover, ihr langes schwarzes Haar war kunstvoll zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Johnson knipste eine kleine Schreibtischlampe an. Das Licht wurde von dem dunklen Holz reflektiert und erhellte den Raum mit einem warmen Schein. Er schluckte.
„Hat dich jemand gesehen?“
Marie schüttelte den Kopf.
„Deine Eltern?“
„Sie zogen sich in eine Kirche zurück. Nach der Beerdigung… sagten sie, sie müssten herausfinden, warum Gott wütend auf sie sei. Sie werden noch zwei Tage weg sein. Mindestens.“
„Gut, gut.“ Der Arzt klang zufrieden. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche. „Stört es dich, wenn ich rauche?“
Marie sah ihn einen Moment lang mit einem flachen, harten Blick an, dann schüttelte sie den Kopf. „Es ist nicht so, dass ich mir Sorgen um seine Gesundheit mache.“
Johnsons Hand zitterte. Um es zu verbergen, öffnete er die oberste Schublade und nahm einen winzigen Aschenbecher heraus. Nach einigen Sekunden des Schweigens wagte er es, die Zigarette in den Mund zu nehmen und anzuzünden. Er nahm einen tiefen Zug und ließ den Rauch durch die Nasenlöcher entweichen.
„Ich weiß, wir haben schon darüber gesprochen, und ich weiß nicht, was du in der Schule gelernt hast – ich meine, du weißt ja, wie das in Kleinstädten ist. Ich will nur noch einmal betonen, wenn das rauskommt…“
„Keine Sorge.“
„Gut, gut.“ Er machte eine Pause. „Es hat mir sehr leid getan, das von deiner Schwester zu hören.“
Marie krallte die Hände in die Stuhllehnen und betete, dass man ihr die Trauer nicht ansah. Das Bild ihrer Schwester, so wie sie auf ihrem Highschool-Portrait ausgesehen hatte, schwebte geisterhaft im Zigarettendunst. Vor vier Tagen hatte dasselbe Bild auf der glatten Oberfläche des Sarges gelegen. Der Bestatter hatte den Sarg fest verschlossen.
Johnson fuhr mechanisch fort: „Es war eine echte Tragödie. So sinnlos; ein junger Mensch…“
„Bitte. Ich will nicht …“
„Natürlich, natürlich. Entschuldigung.“ Johnson nahm seine Brille ab und putzte sie energisch mit seiner Krawatte. Er wollte sie nicht ansehen. „Nun, äh, sollten wir über mein Honorar sprechen.“
„Hier.“ Marie legte einen Umschlag auf den Schreibtisch. Der Arzt schaute hinein. Schnell blätterte er die Rechnungen durch und zählte beiläufig das Geld. Schließlich legte er den Umschlag in eine der unteren Schubladen und schloss sie. Dann schaute er Marie in die Augen.
„Ich möchte noch ein paar Dinge klären, dann fangen wir an. Also … ich weiß nicht, was du erwartest, aber es wird nicht angenehm.“ Er fuhr sich mit einer Hand voller Muttermale durch sein graues Haar. „Es wird sogar sehr unangenehm sein, und … na ja, danach wird es wehtun. Daran führt kein Weg vorbei. Um dir ein wenig Linderung zu verschaffen, gebe ich dir ein Medikament namens Fentanyl. Nur zur leichten Beruhigung. Angst vor Spritzen?“
Marie umklammerte ihren Rucksack fester und flüsterte: „Nein.“
„Gut, gut. Ich werde ein Spekulum einführen müssen, um deinen Muttermund zu weiten…“
„Bitte, ich will das alles gar nicht wissen. Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich will es nur hinter mich bringen.“
„Natürlich, natürlich. Ich verstehe.“ Johnson nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, drückte sie langsam in dem kleinen Aschenbecher aus und rollte sie noch ein paar Mal sanft zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Bringen wir es hinter uns.“
Sie standen gleichzeitig auf. Marie öffnete die Tür und trat hinaus in den schmalen Flur. Sie wartete auf Johnson und folgte ihm, der sich müde durch den dunklen Flur bewegte. Sie kamen am Schwesternzimmer und mehreren unbeschrifteten Türen vorbei.
Am Ende des Ganges schloss er eine dicke Metalltür auf. Nüchtern stand darauf: „CHIRURGIE“.
Johnson legte einen Schalter neben der Tür um, und große Leuchtstoffröhren flackerten hell auf. Sie warfen ein grelles, brennend weißes Licht in den Operationssaal. Boden und Wände waren mit grünen Fliesen ausgelegt. Marie bemerkte unwillkürlich den metallenen Abfluss in der Mitte. Darüber wartete ein Operationstisch aus Edelstahl. An den Wänden standen glänzende Metallschränke und Maschinen auf Rädern. Die Luft im Raum schien mit Bleichmittel getränkt zu sein, und Marie atmete flach durch den Mund ein.
Johnson reichte ihr einen weißen Krankenhauskittel und sagte: „Du kannst ihn in meinem Büro anziehen, wenn du willst.“
Sie nahm das weiße Bündel und ging, ohne etwas zu sagen, auf den Flur hinaus. Als sie zurückkam, trug Johnson einen Laborkittel und eine Plastikkappe über seinem schütteren Haar. Er klopfte auf den Operationstisch. „Setz dich, damit wir anfangen können.“
Marie ging barfuß über die kühlen Fließen zu dem kleinen Stuhl vor dem Tisch. Sie hielt das Kleid hinten mit einer Hand geschlossen und trat auf den Hocker. Als sie sich setzte, konnte sie das kalte Metall durch die dünne Baumwolle spüren. Johnson rollte etwas heran, das aussah wie ein Garderobenständer aus Stahl. Ein durchsichtiger Plastikbeutel voller klarer Flüssigkeit hing von einem der Haken und ein dünner Schlauch kam unten aus dem Beutels heraus. Er steckte das Ende davon in eine dafür vorgesehene Spritze, wickelte den Schlauch über den Haken und ging zur Theke.
„Tut mir leid, hier ist es etwas kalt“, sagt Johnson. „Die Heizung fährt nachts automatisch runter.“ Er kam mit einem Wattestäbchen und einer Flasche Spiritus zurück. Er legte das Wattestäbchen auf den Tisch und nahm eine Leinenmanschette von der Wand. Er wickelte sie um Maries rechten Arm und verschloss sie mit einem Klettverschluss. An der Manschette hing ein Gummiball, den Johnson benutzte, um die Manschette fest um Maries Arm aufzupumpen. Er klopfte leicht auf ihren Unterarm und fand die Vene. Schnell steckte er sich die Hörer des Stethoskops in die Ohren und überprüfte Maries Blutdruck. Zufrieden mit dem Ergebnis, löste er den Klettverschluss und nahm die Manschette ab. Er legte den Wattebausch auf die Flaschenöffnung und drehte die Flasche kurz auf den Kopf, um den Wattebausch mit der scharfen Flüssigkeit zu tränken. Dann rieb er damit über die Mitte von Maries Arm.
Die Nadel glitt leicht hinein.
Marie wandte sich ab und sah auf die Uhr. 1 Uhr 37. Ein metallisches Quietschen ließ ihren Kopf herumfahren. Sie sah, wie Johnson einen der glänzenden Bügel über dem Tisch positionierte. Er versuchte, ihr ein tröstendes Lächeln zu schenken, aber es erreichte seine Augen nicht. Marie schluckte, als ihr die Höhe des Bügels bewusst wurde. Sie atmete schneller.
„Vielleicht ist es bequemer, wenn du dich zurücklehnst“, sagte Johnson und brachte die anderen Bügel so leise wie möglich an ihren Platz. Das Metall quietschte noch immer protestierend.
Marie schloss die Augen und lehnte sich gegen den kalten Metalltisch. Dabei hielt sie die Schenkel fest zusammengepresst. Ihr Magen begann wieder zu knurren. Sie konnte hören, wie Johnson weitere Utensilien zum Tisch rollte. Als sie ihn über sich stehen hörte, öffnete sie die Augen und starrte in das gleißende runde Licht einer Lampe, die der Arzt über ihren Beinen positionierte. Sie schloss die Augen wieder und hoffte, dass das Beruhigungsmittel, das ihr in den Arm tropfte, bald wirken würde. Ihr Atem ging schneller und stoßweise.
Als Johnson das nächste Mal sprach, war er irgendwo in der Nähe. Seine Stimme war sanft, beruhigend. „Okay, ganz ruhig. Konzentriere dich auf deine Atmung. Atme langsam und tief. Alles wird gut, okay? Alles wird gut. Genau so, langsam und ruhig.“
Marie zwang sich, den Atem für ein paar Sekunden anzuhalten, und stellte fest, dass sie nur ihr Herz schlagen hörte. Nicht das Ticken der Uhr, nicht das Summen der Leuchtstoffröhren, nichts. Nur das langsame, gleichmäßige Klopfen in ihren Ohren. Das Geräusch beruhigte sie, und sie spürte, wie sich ihr Körper zu entspannen begann. Sie atmete langsam und ruhig. Nach einigen Sekunden verlangsamte sich auch ihr Herzschlag. Hinter den geschlossenen Lidern erschien der Raum gar nicht mehr so hell.
„Gut, gut. Du machst das gut. Ich stelle jetzt deine Füße in die Bügel. Alles wird gut.“
Der Tisch fühlte sich nicht mehr so kalt an. Marie hatte nur das vage Gefühl, dass ihre Beine vorsichtig auseinandergezogen wurden. Ihr linkes Bein wurde in die flache, glatte Rille des Metalls gehoben. Wie der Tisch war auch das Metall nicht mehr kalt. Ihr rechtes Bein folgte und nahm seinen Platz ein. Plötzlich überkam sie ein panisches Gefühl des Ausgeliefertseins. Ihr Herz hämmerte. Dann ließ das Gefühl nach, und sie glitt zurück in die weiche Wärme des Tisches. Sie hörte Johnson sprechen, aber die Worte verloren sich und ergaben keinen Sinn. Sie ruhte in der Gewissheit, dass sie es fast geschafft hatte. Sie hatte keine Angst mehr.
Dann, noch bevor der Arzt näher kam, bewegte sich etwas in ihr.
* * *
Johnson hielt Maries Handgelenk mit dem Zeigefinger über die Vene und schaute auf die Uhr. Das Ticken klang sehr laut in dem stillen Raum. Ihr Puls war stabil. Er mustert ihr Gesicht, ihre Augen waren geschlossen. Ihr Brustkorb und ihre jungen Brüste hoben und senkten sich unmerklich. Behutsam legt er ihren Arm zurück auf den Tisch, dicht an ihren Körper. Das mit dem Fentanyl vermischte Ketamin hatte seine Arbeit getan, Marie würde die nächsten zwei Stunden schlafen.
Er ging zum Ende des Tisches, zwischen ihre unbeholfen angehobenen Beine, und setzte sich auf einen niedrigen Hocker auf Rollen. Er nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Mit der anderen Hand griff er in seine Kitteltasche und holte seinen Flachmann heraus, setzte die Brille wieder auf, schraubte den Deckel auf und nahm einen tiefen Schluck. Er schluckte die brennende Flüssigkeit hinunter und atmete langsam und lang aus. Das Fläschchen verschwand wieder in seiner Tasche, und er wischte sich mit Daumen und Zeigefinger den Rest der Flüssigkeit aus den Mundwinkeln. Es war so weit. Etwas unsicher stand er auf und gab dem kleinen Hocker einen Schubs, so dass er wegrollte.
Maries Fußnägel waren pfirsichfarben lackiert. Unter ihrem Kittel trug sie nur ein T-Shirt und ein dünnes goldenes Kreuz an einer Kette um den Hals. Johnson zog sich ein Paar chirurgische Gummihandschuhe über und ließ das dünne Material gegen seine Handgelenke schnappen. Er krümmte die Finger, damit die Handschuhe gut passten, und begann mit der Arbeit.
Zuerst schob er das glatte, geschlossene Spekulum zwischen die feinen Falten ihres zarten Fleisches, drückte die Griffe langsam zusammen und zwang die Schnäbel auseinander, bis er ein Klicken hörte und das Spekulum geöffnet war. Dann griff er nach der Absaugkürette, einem hohlen Rohr mit einem gewundenen Messer am Ende. Das andere Ende des Rohrs führte zu einer kleinen, unscheinbaren Maschine, die für eine starke Saugkraft sorgte. Johnson setzte seine leichte blaue Maske auf. Die gebogene Klinge fing das Glitzern des Dachfensters ein und schickte flammende Flecken auf seine Brillengläser.
Vorsichtig arbeitete er mit der abgerundeten Spitze des Messers an Marie und schob es langsam in ihren Uterus. Die durchsichtige Plastiktüte, die an dem Rohr hing, klatschte gegen die Ecke des Tisches, als Johnson das Messer weiter einführte. Er arbeitete blind, nur vom Gefühl des Widerstands geleitet, während er das Messer vorsichtig in der Gebärmutter bewegte, um das unerwünschte Gewebe sauber zu durchtrennen.
Mit der linken Hand griff er nach unten und drehte die Maschine auf. Sie summte leise. Johnson erhöhte die Saugkraft. Blut spritzte an die Innenseite des Plastikbeutels. Ein kleines Stück Fleisch folgte mit einem weichen, feuchten Geräusch. Dann noch eins. Und noch eins. Vorsichtig bewegte er das Messer in einem langsamen, bewussten Kreis und versuchte, die Unsicherheit zu ignorieren, die durch den Alkohol in seine Finger kroch.
Die Maschine wurde lauter.
Johnson runzelte die Stirn. Das Gerät musste siebenundzwanzigmal stärker sein als ein gewöhnlicher Staubsauger. Marie war erst im ersten Drittel der Schwangerschaft, das Gewebe war weich, also sollte es keine Probleme mit dem Saugen geben. Zur Probe bewegte er das Messer und fragte sich, ob es die Gebärmutterwand treffen würde. Was auch immer schief ging, es lag nicht an seinen zitternden Händen. Er umklammerte den Messergriff fester. Das Heulen der Maschine wurde lauter, angespannter. Er überprüfte den Plastikbeutel.
Nichts kam aus dem Rohr.
Er hob den Beutel hoch. Der Inhalt reichte bei weitem nicht aus, um ihm zu signalisieren, dass er alle Teile erhalten hatte. Mit dem Sack in der linken Hand testete er die Maschine erneut. Zuerst verringerte er die Saugleistung, dann drehte er sie wieder so hoch wie möglich. Nun begann die Maschine leicht zu vibrieren. Er bemerkte, dass sich etwas in dem Beutel bewegte.
Sofort ließ Johnson den glatten Kunststoff los und schrie vor Schreck auf. Der Beutel löste sich aus dem Rohr und fiel plump auf den Tisch. Er beugte sich darüber, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
Der Beutel, der innen voller Blut war, lag regungslos da: Es war zwar unwahrscheinlich, aber möglich, dass etwas das obere Ende des Rohrs verstopft hatte. Zaghaft zog er am Messer.
Es bewegte sich nicht.
Johnsons Augen weiteten sich. Er zog fester. Das Messer blieb stehen. Dann bewegte es sich von selbst, drehte sich in seiner Hand wie etwas Lebendiges. Wieder veränderte der Sog seinen Ton und brach den Widerstand. Noch mehr Blut und Fleischfetzen wurden in den Beutel gespritzt. Er schwoll an, füllte sich rasch. Der Arzt schluckte und zwang seine Hände, ruhig zu bleiben. Er umklammerte das Messer und zog. Immer noch nichts. Das Messer hätte auch in Beton stecken können. Der Beutel wuchs weiter. Er zog noch fester, beugte den Rücken. Mit der linken Hand stemmte er sich gegen den Tisch, grunzte und riss mit aller Kraft am Rohr.
Der Plastikbeutel platzte wie ein überfüllter Wasserballon.
Blut schoss in Johnsons Gesicht und spritzte über seinen Rücken. Plötzlich war das Messer frei und er stürzte über die Maschine. Sein Kopf knallte auf den Boden, seine Brille rutschte über die Fliesen. Das Heulen der Maschine ebbte ab zu einem normalen Summen. Johnson versuchte, sich das Blut aus den Augen zu blinzeln.
Dicke, nasse Geräusche drangen aus Maries Innerem.
Er hielt das Messer immer noch, aber er konnte es nicht erkennen. Er ließ es fallen, wälzte sich auf Händen und Knien. Vom Tisch kamen weitere feuchte Geräusche. Johnson kroch vorwärts, mit ausgestreckten Händen wischte er über den Boden. Ihm war, als hörte er etwas über sich. Etwas kroch über die glatte Metalloberfläche des Tisches. Johnson schleppte sich weiter. Seine rechte Hand schloss sich um seine Brille und er hob sie auf. Er hielt sie sich vors Gesicht und sah, dass sie blutverschmiert war. Weitere Geräusche kamen vom Tisch. Er riss sein Hemd aus der Hose, benutzte den noch sauberen Teil, um sich die klebrige Flüssigkeit abzuwischen. Jetzt kamen die Geräusche vom Fliesenboden. Der Stoff schmierte das meiste Blut einfach weiter über die Gläser, aber Johnson gelang es, einen kleinen Teil der rechten Seite davon zu befreien. Verzweifelt setzte er seine Brille auf und blickte auf den Tisch und Maries blutverschmierte Beine.
Dann begann er zu schreien.
* * *
Marie erwachte mit einem schmerzerfüllten Atemzug. Ihre untere Körperhälfte fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. Ihre Beine standen immer noch gespreizt in den Gestellen. Zwischen ihren Schenkeln spürte sie warme Nässe, während sie nach Luft rang. Ein säuerlicher Geruch nach Kupfer stieg ihr in die Nase. Der Tisch fühlte sich klebrig und feucht an. Der hell erleuchtete Raum verschwamm vor ihren Augen. Ihr Magen knurrte krankhaft.
Sie biss die Zähne zusammen und zog vorsichtig erst das eine, dann das andere Bein von den Beinstützen. Sie atmete ein paar Mal schnell durch, dann gelang es ihr, sich in eine sitzende Position zu bringen. Für einige Sekunden verlor sie das Gleichgewicht und fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Aber der Schwindel verflog, und der Raum nahm feste Formen an, während sie ihre Augen auf die Dinge konzentrierte. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte 3.06 Uhr.
Die Innenseite ihrer Oberschenkel war mit getrocknetem Blut verkrustet. Auch der Tisch war mit der rotbraunen, klebrigen Masse bedeckt. Sie beugte sich vor und sah Dr. Johnson. Aus seinem Mund ragte eine Art Plastikschlauch. Seine Augen fehlten. Marie konnte in seinen Schädel hineinsehen. Er schien leer zu sein, ausgesaugt. Sie schluckte und versuchte, gegen die Übelkeit anzukämpfen, die wieder in ihr aufflammte. Sie hatte so etwas erwartet, aber sie war nicht darauf vorbereitet, Dr. Johnsons verstümmelten Körper tatsächlich dort liegen zu sehen.
Aber das war nur gerecht. Und ihre Schwester hätte es so gewollt.
Susan war vor sieben Tagen in Dr. Johnsons Praxis gekommen, vier Monate nachdem das Kondom ihres Freundes geplatzt war. Doch die Operation war schief gegangen. Mit zu viel billigem Whisky im Blut rutschte Johnson ab und durchstieß die Gebärmutterwand. Statt den Fötus einzusaugen, erwischte er unversehens Teile ihres Dickdarms.
Marie schwang ihre blutigen Beine über die Tischkante. Sie traute sich noch nicht, ohne Hilfe zu stehen. So saß sie da, schaute auf die Uhr und verlor sich wieder in ihren Erinnerungen.
Susans Augen kochten vor Schmerz, als sie durch die Haustür stolperte; das Blut rann ihr in heftigen Stößen zwischen den Beinen hinunter. Doch Marie sah in den Augen ihrer Schwester etwas anderes als Schmerz. Scham.
Unter dem Operationstisch ertönte ein klägliches Wimmern wie das eines ertrinkenden Kätzchens.
Mit stockendem Atem hatte Susan ihrer jüngeren Schwester alles erzählt. Über die Abtreibung, wie Dr. Johnson murmelte, dass die Blutungen normal seien und in ein paar Stunden aufhören würden. Aber Susan wusste, dass das nicht stimmte und sie hier auf dem Küchenboden verbluten würde. Einen Krankenwagen zu rufen, kam für sie nicht in Frage. Sie wollte nicht, dass jemand die Wahrheit erfuhr. Die Jugendgruppe in der Kirche sollte es nicht erfahren. Also humpelte sie mit Maries Hilfe zurück zum Auto und setzte sich auf den blutverschmierten Vordersitz. Die Bahngleise waren nur drei Kilometer entfernt, und die ganze Nacht hindurch fuhren Güterzüge durch die Stadt.
Doch bevor Susan starb, brachte sie einen verstümmelten, vier Monate alten Fötus zur Welt. Sie sagte, Gott gebe ihrem Kind eine zweite Chance. Und sie bat Marie, sich um es zu kümmern, egal was passiere.
Also brachte Marie es an den einzigen sicheren Ort, den sie kannte.
Ungeschickt rutschte Marie vom Metalltisch, setzte ihre nackten Füße auf den eiskalten Boden, der mit Blut und Fleischfetzen bedeckt war. Sie hielt sich am Tisch fest und beugte sich langsam vor, um darunter zu sehen. Ein kleines, halb geformtes Auge starrte sie aus einem unförmigen Säuglingsschädel an. Marie streckte die Hände aus und streichelte die blutige Gestalt. Winzige Finger umschlossen ihren Daumen. Aus den kleinen Fingerspitzen ragten teilweise entwickelte Fingernägel.
Es gab einen weiteren Schrei von sich.
„Psst, psst. Alles ist gut. Mammi ist da. Mammi ist da.“ Marie spreizte die Beine und hockte sich über den Fötus. Langsam ließ sie sich zu Boden sinken und spürte, wie sich der unförmige Schädel schwach gegen die blutdurchtränkte Öffnung zwischen ihren Beinen drückte. Ihr Baby war kalt, als es in sie zurückglitt. Aber das war in Ordnung. Sie würde es wärmen. Sie würde es wärmen und beschützen und füttern und sich um es kümmern, wie sie es versprochen hatte.
Bis es wiedergeboren werden konnte.
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