Unschuldsengel

Die Unschuldsengel

The Turn of the Screw. Zu Deutsch: Das Durchdrehen der Schraube. Oder: Die Drehung der Schraube, Bis zum Äußersten, Das Geheimnis von Bly ist eine vielrezipierte Novelle von Henry James, die 1898 von Januar bis April als Fortsetzungsgeschichte in der Wochenzeitschrift Collier’s zum ersten Mal erschienen ist. Illustriert wurde die Geschichte von Eric Pape. 1908 erschien die erste Buchveröffentlichung.

Im Original ist der Erzählung eine Rahmenhandlung vorangestellt, die sich am Ende jedoch nicht fortsetzt. Es bleibt also der Phantasie des Lesers ausgesetzt, was er mit den Aufzeichnungen der Gouvernante anfängt. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht eines namenlosen Ich-Erzählers (ob männlich oder weiblich, ist unklar), der dem Leser wiederum erzählt wie ein Mann namens Douglas am Kamin in geselliger Runde, in einem englischen Landhaus den Anwesenden die Geschichte dieses Kindermädchens eröffnet, die sie ihm wiederum vertrauend offenbart hatte und sie nun aus ihrer Sicht wiedergibt.

Im Hörspiel ist auf diese Rahmenhandlung verzichtet worden. Warum eigentlich? Bietet dieser Rahmen doch den zusätzlich verstärkenden Effekt, es dem Empfänger dieser Geschichte zu überlassen, ob es sich dabei um eine wahre Begebenheit handelt, ob er die Existenz von Geistern annimmt, oder: ob er alles in Zweifel zieht, weil er die Geschichte dieser Frau als eine rein psychologische Studie in einem viktorianischen England begreift.

Ich kenne da jemanden … es hat sich begeben.

Wir kennen das: Alle.

Es ist wichtig zu wissen, dass zu jener Zeit Geistergeschichten recht en vogue waren. Womit ich vor allem jene meine, die sich mit Geistererscheinungen als solches befassen. Seien es wissenschaftliche oder journalistische Texte, oder auch einfach nur Zeugenberichte. Es darf vermutet werden, dass Henry James, der an Tagungen der Society for Psychical Research teilgenommen haben soll, sich für diese Novelle von solchen Zeugenberichten mindestens inspirieren ließ. Henry James, der als distanzierter Beobachter des Menschen gilt, der uns an den Bewusstseinsströmen (stream of consciousness), dem Innenleben seiner vor allem weiblichen Figuren teilhaben lässt, löst mit dieser Novelle beim Leser einen Bewusstseinsstrom aus, in dem er sich selbst überlassen ist, da sich die Geschichte, aufgrund ihrer gesamten Erzählweise, einer eindeutigen Lesart und Interpretation verweigert. In Fachkreisen nennt man das Horror. Und was mich in dieser Annahme bestärkt, ist vor allem die Tatsache, dass diese Novelle so stark rezipiert, beforscht und besprochen wurde. In alle erdenklichen Richtungen. Zig Interpretationen, die man, je nach hausgemachter Lesemotivation bzw. Prämisse, die sich aus ihr ergibt, zu untermauern versuchte. Sei es aus dem Blickwinkel der Gender Studies, einer freudianischen oder marxistischen Sichtweise usw.. Viele Augäpfel unterschiedlichster Couleur haben also gelesen und ihre Sicht der Dinge zum Besten gegeben. Das passiert wohl, wenn man sich eines sog. Unzuverlässigen Erzählers bedient. Wobei ich hier anbringen möchte, dass dieser Begriff: ‘Unzuverlässigkeit’, ein wertender ist, abhängig vom Leser und seinen Wahrnehmungen. Etwas, das jedoch auch außerhalb des Buches seine Entsprechung findet. Übersetzt auf unsere Welt, in der differente Wahrnehmungen Einzelner, die vom allgemeinen Konsens stark abweichen, noch immer pathologisiert werden, trifft das leider zu. Heißt: Wer ernsthaft versucht, anderen von Geistern und anderen Wesen zu erzählen, der läuft Gefahr stante pede zum Arzt geschickt oder mindestens schief angeschaut zu werden. Meistens jedenfalls. Doch Mensch sei Dank, nicht immer! Wir zweifeln offenbar lieber, finden dies und das fragwürdig, anstatt zu Staunen, den Anderen zu bitten: Erzähl’ mir mehr! Daher würde ich sagen, Henry James hat mit dieser Novelle zugleich auch eine interessante Leserstudie mit Langlaufzeit vorgelegt. Und so kann ich diesem Einordnungsversuch, der zu bedenken gibt, dass es sich hier um eine Erzählung handelt, die alle Kriterien der American Gothic erfüllt und des Weiteren schreibt:

“”Die Drehung der Schraube” ist beinahe ein Konzentrat aller archetypischen Motive, die es in der englischen Geistergeschichte gibt, wobei ihr Geltungsbereich mehr ein amerikanischer ist …”

dies noch hinzugeben.

Mit der Wahl des Titels bin ich überhaupt nicht einverstanden. Tut es wirklich Not, ihn zu ändern, wenn man sich weitestgehend an den Urtext hält? Zu stark ist der originale, der viele Möglichkeiten an Übersetzungen zulässt: The Turn of the Screw:

“Flora hatte ein flaches Holzstückchen aufgeklaubt, das zufällig ein kleines Loch besaß, was sie offensichtlich auf den Gedanken gebracht hatte, ein anderes Hölzchen hineinzustecken, das einen Mast darstellen und das kleine Holzstück zu einem Schiffchen machen sollte. … – ich sah, was ich sehen musste.”

Eben. Nur was? Das ist dem Leser vorbehalten …

Zumal der Begriff ‘Unschuldsengel’ heute anders gebraucht wird als ihn die Erzählerin, das Kindermädchen, verwendet, die in ihnen tatsächlich, benutzt sie dieses Wort, unschuldige Englein sieht / sehen will, auch wenn sie deren Unschuld im Laufe der Zeit mehr und mehr in Zweifel zieht. Denn tatsächlich, folgt man ihrer Geschichte, sind Flora und Miles so etwas wie Unschuldsengel, allerdings in einem eigentlich annähernd ursprünglichen Sinne, da sie nicht nur behütet, ja gar isoliert aufgewachsen sind, nichts als sich selbst und die Bediensteten hatten, im Rahmen einer Idylle, die eine eigene kleine Welt bedeutet, in der sie ihre Fähigkeiten, die Welt und ihre Dinge und Wesen vielleicht ganz anders wahrzunehmen, ausprägen und entwickeln konnten als jene, die sie nicht in jener isolierten Weise erfahren haben. Zu irreführend ist dieser von Titania Medien gewählte Titel, der einen, durch diese Wandlung des Begriffs, sofort an kleine Satansbraten denken lässt. Und so hören sie sich auch leider an, Flora und Miles, wie kleine Quälgeister. Prototypische, die zuhauf schon über die Leinwände flimmerten.

Ähnlich geht es mir mit den restlichen Sprechern, die immer wieder Gefahr laufen ins Overacting zu fallen. Dass das passiert ist, mag daran liegen, dass man hier auf einen Erzähler verzichtet, sich besonders auf die Dialoge gestützt und dann in der Regieanweisung show, don’t tell gerufen hat.

Eines jedoch aber kann ich festhalten, kennt man das Original nicht, kann man hier von einem mehr oder weniger passablen Hörspiel sprechen, das den Hörer durchaus gruselt, es sogar schafft, ihm eine Ahnung zu vermitteln, dass er sich am Ende selbst ein Bild machen muss, folgt er dem Impuls, die Geschehnisse und Handlungen der Figuren einordnen zu wollen. Jedoch ist es kein besonders herausragendes. Eher gesellt es sich hinzu. Ganz der Redewendung folgend: Kennst du eines, kennst du sie alle.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass eine Adaption des geschriebenen Wortes in ein anderes Medium kein Leichtes ist, dass es bedeutet, dass man der Sprache anders Tribut zollt, weil jeder der uns gegebenen Sinne eine eigene verlangt … Das aber ist die große Herausforderung:

“Noch habe ich seine letztendliche Preisgabe des Namens und seinen Tribut für meine Hingabe im Ohr. “Welche Bedeutung hat er denn jetzt noch, mein Einziger? – welche Bedeutung wird er jemals haben? Ich habe dich, aber der”, schleuderte ich der Bestie entgegen, “hat dich auf ewig verloren!” Dann, um mein geleistetes Werk zu demonstrieren, sagte ich zu Miles: “Dort, dort!” Doch er hatte sich bereits mit einem Ruck schnurstracks umgedreht, wieder starren Blickes durchdringend umhergeschaut und nichts gesehen als den stillen Tag. Unter dem Schlag des von mir mit solchem Stolz aufgenommenen Verlustes stieß er den Schrei einer Kreatur aus, die kopfüber in einen Abgrund geschleudert wird, und der Griff, mit dem ich ihn wiedererlangte, könnte ihn vielleicht in seinem Sturz aufgefangen haben. Ich fing ihn auf, ja, ich hielt ihn – man kann sich vorstellen, mit welcher Leidenschaft; doch nach Ablauf einer Minute begann ich zu begreifen, was ich tatsächlich hielt. Wir waren allein mit dem stillen Tag, und sein kleines Herz, nunmehr frei, war stehengeblieben.”

Albera Anders

Albera Anders

Studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Heidelberg und schreibt seit 2016 für das Phantastikon.

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