In Patrick Modianos Erzählungen dreht sich fast alles um die Erinnerung, diese schwer fassbare Eigenschaft.
“Ich bin nichts”, lautet der erste Satz in “Die Gasse der dunklen Läden” von 1978. In Modianos Welt bestehen wir aus unseren Erinnerungen, aus unserer Geschichte, aus den Geschichten, die wir uns über unser Leben zusammenreimen. Wenn wir nicht mehr wissen, wer wir sind, wer sind wir dann überhaupt?
Der Protagonist Guy Rolland verlor vor 15 Jahren bei einem mysteriösen Unfall sein Gedächtnis, bis ihn der Privatdetektiv Hutte anheuerte.
Als Hutte in den Ruhestand geht und nach Nizza zieht, übernimmt Guy die Aufgabe, herauszufinden, wer er wirklich ist, denn sein jetziger Name ist nur eine künstliche Identität.
Mit Hilfe von Fotos, kleinen Hinweisen, Telefonbüchern und Gesprächen mit verschiedenen Menschen setzt er sein Leben langsam zusammen, aber es ist ein verschlungener Weg mit vielen Löchern. Jeder Hinweis führt zu einem anderen; manchmal glaubt er, herausgefunden zu haben, wer er ist, nur um kurz darauf Beweise dafür zu finden, dass er doch jemand anderes ist. Ist er Pedro Stern oder McEvoy? Wie heißt die Frau auf dem Foto, die er erkennt? Warum sind sie aus Paris geflohen? Die Fragen häufen sich und es gibt kaum Antworten. Guy tappt im Dunkeln, in einer fast filmischen Traumwelt, die von einer Vielzahl mehr oder weniger seltsamer Gestalten bevölkert wird. Auf der Grundlage der wenigen Informationen, die er hat, beginnt Guy eine Geschichte zu erzählen, aber ist es wirklich so gewesen oder erzählt er sie nur, um wenigstens eine eigene Geschichte zu haben?
Das Buch verlangsamt sich, als er beginnt, die scheinbar endlosen Hinweise auf das Rätsel seiner Identität zu lösen, und der Roman wandelt sich von einem Kriminalroman zu einem Roman der Reflexion und Kontemplation, als Guy erkennt, dass der Schlüssel zur Entdeckung seines früheren Lebens in der Besetzung Frankreichs liegt. Modianos Stil ist einerseits klar in seinen Abläufen und noch präziser, wenn es darum geht, zu erforschen, wie das Gedächtnis funktioniert und was den Erinnerungsmechanismus auslöst. Damit erinnert der Roman an die Filme von Alain Resnais (Letztes Jahr in Marienbad, Drehbuch Alain Robbe-Grillet), die die Beziehung zwischen Bewusstsein, Erinnerung und Imagination erforschen.
“Die Gasse der dunklen Läden” ist ein melancholischer und unheimlicher Roman, dessen Handlung auch ein ganz konventioneller Kriminalroman hätte sein können. Die fragmentierte Erzählweise und die umgekehrte Chronologie machen ihn jedoch alles andere als konventionell. Wie immer schreibt Modiano mit einer begnadeten Leichtigkeit. So kann es leicht passieren, dass man die kleinen, wunderbaren Details der Sprache und der Beschreibung der Umgebung übersieht. Manche Kapitel sind nur eine Seite lang und bestehen aus Listen von Namen, Adressen und Telefonnummern. Aber selbst in diesen Listen gelingt es ihm, die Poesie des Verlorenen sprechen zu lassen.
Modiano beschäftigt sich häufig mit der tückischen Natur der Erinnerung und ihren Unzulänglichkeiten. Erinnerung und Identität sind für ihn fließend und flüchtig, sie verändern sich ständig. Für diesen Roman erhielt Modiano 1978 den renommierten Prix Goncourt für die nahtlose Integration des Psychologischen und Existenziellen in das oft formelhafte Genre der Kriminalliteratur. Der Roman besticht sowohl durch seine vorhersehbaren, spannungsgeladenen und geheimnisvollen Szenen als auch durch seine oft tiefgründigen Analysen von Identität und Erinnerung, die in einer direkten und unverblümten Ich-Prosa präsentiert werden, die an die von Meursault in Albert Camus’ “Der Fremde” erinnert. Wie seinem Nobelpreisträger-Kollegen gelingt es ihm, die komplexen Themen, die er behandelt, zugänglich zu machen, während die zahlreichen Charaktere und Anekdoten unüberschaubar bleiben.
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