Tatsächlich passiert: Da bringt ein neunjähriges Mädchen seine komplette Familie unschuldig an den Galgen. Lebt frei und mehr oder weniger fröhlich weiter. Entkommt als erwachsene Frau der eigenen Hinrichtung, weil höchst wundersam das Glück über sie wacht. Lebt anschließend offiziell unbescholten weiter, bis…nun, mehr ist nicht überliefert.
Vielleicht hat der Blitz sie getroffen. Vielleicht traf er auch Richter Roger Nowell. Das wäre gerechter gewesen. Aber dies ist keine gerechte Geschichte. Und keineswegs eine nette Geschichte. Da gefällt uns schon die Basis nicht, obgleich sie noch gar nicht richtig erzählt wurde. Großes Defizit: Es fehlt komplett die Moral. Irgendwie berührend, vielleicht betroffen machend, gar heldenhaft und ehrenwert ist da rein gar nichts. Dafür lacht der Teufel sich über so was eins ins Fäustchen.
Es ist lange, lange her. Und es waren finsterste Ansichten, die geschehen ließen, was geschah. Wir nennen das kurz und bündig böse. Das kleine Mädchen, das seine ganze Familie durch eine Zeugenaussage in den Tod schickte, könnten wir unbedacht grausam nennen. Gefühlskalt vielleicht. Verabscheuungswürdig allemal. Aber damit würden wir ihm nicht gerecht. Das Mädchen hieß Jennet Device. Sie war das „Hexenkind von Pendle Hill“. Sie war ein Opfer. Das Opfer von Richter Nowell und seinem Ehrgeiz, all diejenigen schuldig zu sprechen, in deren Augen er die Hexen mit dem Teufel tanzen sah. Es war ein vom Wahn getriebener, typischer Ehrgeiz. Zweifellos typisch für den mittelalterlichen Alptraum.
Des Richters vom Wahn getriebener Ehrgeiz
Jennet lebte in einer gefährlichen Zeit. Man schrieb das Jahr 1612, und es war ratsam, permanent auf der Hut zu sein. Aberglaube in allen erdenklichen Schattierungen lauerte in jeder Ecke, und die Nachbarschaft war höllisch wachsam. Sie denunzierte gern und oft, wenn ihr etwas nicht geheuer zu sein schien. Sie denunzierte auch eifrig, wenn sie neidisch, schlichtweg verärgert oder scheinheilig fromm war. Letzteres galt als besonders verbreitete Eigenschaft, ist bekanntlich auch heute noch eine gewünscht kleidsame Maske verlogener Bravmenschen.
Da gibt es diesen gut gemeinten Ratschlag aus dem Poesiealbum:
„Spricht einer schlecht von dir, sei’s ihm erlaubt. Du aber lebe so, dass keiner es ihm glaubt.“
Klingt ordentlich, ist aber etwas blauäugig verklärt gedacht. Wer so lebt, hat trotzdem nie eine solide Garantie für das Leben. Manchmal auch nicht für das Überleben. Als Faktum gilt: Die Familie von Jennet Device hatte nichts Schlimmes getan. Sie wurde verurteilt im berüchtigten „Hexenprozess von Pendle“, der Jahrzehnte später als Musterverfahren für die „Hexenprozesse von Salem“ in Neuengland, Nordamerika, diente. Spezifisches Merkmal: Schuldsprechung aufgrund von (manipulierten und diktierten!) Kinderaussagen. Es waren Unwahrheiten, die den Kindern als Wahrheiten eingetrichtert wurden. Jennets Familie musste wegen einer solchen Lüge sterben. Aber warum log Jennet?
Sie wurde 1603 in der Grafschaft Lancashire, Gemeinde Pendle, im Nordwesten Englands geboren. Ergo zu Beginn eines Jahrhunderts, das stark geprägt war vom Glauben an das Übernatürliche in sehr wohl auch heilbringender, vor allem aber in unheimlicher, angsteinflößender, zutiefst schädlicher und vernichtender Form.
Im noch recht frisch protestantischen Land regierte König Jakob I. (1566-1625), ein abergläubischer Mann, der als Befürworter der Hexenjagd galt. Es war diese große schreckliche Zeit. Die ganz Europa erfassende Welle der Hexenverfolgung, – geschätzt 40.000 bis 60.000 wegen Hexerei Hingerichtete – , hatte ihren Höhepunkt bekanntlich in den einhundert Jahren zwischen 1550 und 1650. In England erließ bereits 1542 König Heinrich VIII. mit dem ausdrücklichen Segen der anglikanischen Kirche einen ersten „Witchcraft Act“ (Hexen-Gesetz), den 1563 die neue Regentin Elisabeth I. radikalisierte. Auf die Ausübung von Hexenwerk sowie die Konsultation einer Hexe/ eines Hexenmeisters stand in jedem Fall die Todesstrafe, verhängt nach einem faulen Geständnis, da nur unter Folter abgelegt.
Todesstrafe, verhängt nach faulem Geständnis
König Jakob I. handelte mustergetreu: So ließ er 1591 eine junge Frau aus gesellschaftlich höherem Kreise auf dem Scheiterhaufen verbrennen, weil sie gegen die göttliche Ordnung verstoßen hatte. Ihr „Vergehen“: Sie wollte von ihrer Hebamme ein Mittel gegen den Geburtsschmerz haben. Das war alles.
Jakob I. warnte aber andererseits auch vor den Gefahren von Hexenverfolgungen aufgrund unbewiesener Vorfälle und haltloser Behauptungen, Gefahren ergo, vor denen man sich eigentlich gar nicht wirklich schützen konnte, ohne beinahe nonstop wachsam zu sein. Immerhin war die Anzahl der Hexenprozesse im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Deutschland, Schottland oder Spanien zur Hochzeit einigermaßen überschaubar. Das liegt vermutlich daran, dass in England die Prozesse meist durch weltliche Gerichte und nicht durch kirchliche Inquisitionen geführt wurden.
Gleichwohl, in dieser unsicheren Zeit wuchs Jennet, wie unzählige andere Kinder im Land , in ärmlichen Verhältnissen im „Malkin Tower“ auf, der ihrer Großmutter, der „Old Dendike“, gehörte.
Das Haus stand auf dem Hügel von Pendle, eben jenem berüchtigten Pendle Hill, der, so munkelte man und glaubte es, als Schauplatz vieler dunkler Taten und Rituale der örtlichen Hexen galt.
Klein und baufällig war das Haus der Großmutter, und allein der Name Malkin, der im lokalen Slang für Schlampe und Hure stand, schrie schon von weitem nach Abschätzung und einem schlechten Ruf. Die Mutter Elizabeth war eine Witwe mit drei Kindern, Alizon, James, und Jennet, dem Nachkömmling. Jennet war unehelich. Die Familie hielt sich mit Betteln und kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser. Sie galt grundsätzlich als schlechter Umgang, die Nachbarn behandelten Elizabeth, Alizon, James und wohl besonders Jennet, den Hurenbastard, grundsätzlich unhöflich, unfreundlich und natürlich respektlos. Das setzte empfindlich zu. Jennet schämte sich. Sie fühlte sich minderwertig. Noch viel wertloser und noch mehr wie Dreck behandelt als ihre Halbgeschwister.
Gute Hexe, böse Hexe, (k)eine Hexe
Die „Old Dendike“ war die Einzige, die ein bisschen geachtet wurde. Leute aus der näheren Umgebung, die sich den Arzt nicht leisten konnten, suchten Jennets Großmutter auf, die sich auf alternative medizinische Behandlungen verstand. Und wenn sie auch hinter vorgehaltener Hand Hexe gerufen wurde, so galt sie allemal als eine gute, die heilt und Flüche bricht. Im Gegensatz zur bösen, die tötet und verflucht. Allemal bewegte sie sich freilich auf heißem Pflaster, eine Lüge, eine Anzeige, eine Verhaftung lauerten immer. Aber es blieb friedlich. Bis zum 8. März 1612.
Den Stein ins unglückselige Rollen brachte Jennets ältere Schwester Alizon. Die gestand, einen örtlichen Krämer, den sie erfolglos um Geld gebeten hätte, aus Wut verflucht zu haben, woraufhin dieser zusammen gebrochen und fast gestorben sei. Das gestand sie selbstverständlich nicht einfach so. Alizons Pech war, dass der Sohn des Krämers, der offensichtlich plötzlich einen normalen Schlaganfall ohne das anormale Zutun einer Hexe erlitten hatte, den Vorfall einem eifrigen Richter namens Roger Nowell meldete. Dessen bohrende Fragen verwirrten das eh schon verstörte, verängstigte Mädchen total. Alizon gab nicht nur zu, den Krämer verhext zu haben, sie beschuldigte auch Mutter und Tochter Chattox, die in der Nähe wohnten, der Hexerei. Das ließen die sich verständlicherweise nicht kommentarlos gefallen und behaupteten ihrerseits, die ganze Familie der „Old Demdike“ sei ein Hexen-Clan.
Die üble Folge war, dass insgesamt 20 Personen in Lancaster Castle eingesperrt wurden und auf ihren Prozess warteten. Lancaster Castle war noch bis 2011 ein funktionierendes Gefängnis mit eben jenem „Hexenturm“, in dem die damals Inhaftierten eingekerkert waren. Nur die kleine Jennet blieb auf freiem Fuß und befand sich während der vier Monate, die von der Verhaftung bis zur Verlesung der Anklage im Gerichtssaal verstrichen, in der Obhut von Richter Roger Nowell. Und was der so alles anstellte, um Jennet, die er als seine Hauptzeugin wählte, dazu zu bringen, derart Unfassbares und unausweichlich Vernichtendes über ihre Familie auszusagen, mag hier Spekulation genannt sein. Vorstellen kann man es sich mehr als gut.
„Old Dendike“ verstarb noch vor Prozessbeginn im Gefängnis. Dann die Verhandlung am 18. August 1612: Die kleine Jennet sagte aus. Völlig entsetzt vom Unvorstellbaren habe sie selbst gesehen, wie der Geist ihrer Mutter in einen großen Hund gefahren sei, den sie auch sehr genau beschrieb. Eben dieser Hund hatte tatsächlich in jüngster Vergangenheit einen Mann aus dem Ort getötet, und der, so Jennet, sei ihre Mutter gewesen, die den Mann hasste und in die Hölle schicken wollte. Jennet belastete auch ihren Bruder James schwer und behauptete, durch Hexerei hätte er allein mit seinem Geist drei Menschen ermordet. Und das angebliche Karfreitagstreffen in „Malkin Tower“ auf dem Pendle Hill im Namen des Herrn habe gar nicht im Namen des Herrn stattgefunden, oh nein, ganz im Gegenteil, es sei eine Hexenversammlung gewesen.
Hexenversammlung am heiligen Karfreitag
Elizabeth Device, Jennets Mutter, schockiert von dem, was sie da hörte, flehte, bettelte und brüllte ihr Kind an, es solle die Wahrheit sagen, wohl wissend, was ihnen allen drohte. Vergeblich. Die tobende Mutter wurde gewaltsam aus dem Saal entfernt. Was Jennet sonst noch Haarsträubendes preisgab, ob unter Tränen, ob wie erstarrt, ob in Ekstase…irgendwie irrelevant. Es blieb endgültig. Es war das Todesurteil für Mutter, Schwester und Bruder.
Der schauerlichen Konsequenzen muss Jennet sich damals auch mit ihren erst neun Jahren bewusst gewesen sein. Nur was war ihr Motiv? Hass auf die Familie, in der sie sich als uneheliches Kind ausgegrenzt, schlechter behandelt, weniger geliebt fühlte? Überlegte sie nicht, was aus ihr werden würde, so einsam in der kalten, grauen Welt? Oder hatte ihr Richter Nowell den blauen Himmel versprochen, ein neues Zuhause, warme Mahlzeiten, eine sichere, vernünftige Zukunft, wenn sie die Hexen ans Messer liefern würde? Hatte er ihr Angst gemacht, angedroht, dass sie grausam sterben würde ohne die Aussage, auf die er baute? Reichte ihre Phantasie, ihr eigenes Wissen überhaupt aus für die detaillierten Beschreibungen der Hexerei, die sie vor Gericht vortrug? Oder war das auf diktiert mit der erwachsener Genugtuung, dass Kinder lenkbar sind?
War es eine kühle Rechnung, dann ging sie bei Jennet Device auf. Sie zeigte auf zehn der Angeklagten, darunter Mutter und Geschwister, die bei der Hexenversammlung am Karfreitag mitgewirkt hätten. Damit war es definitiv besiegelt. Sie wurden gehängt.
Bürde großer Schuld auf den Schultern
Jennet blieb allein zurück. Zweiundzwanzig Jahre gingen ins Land. Was in dieser Zeit mit ihr geschah, wo und wie sie lebte, steckt im Verborgenen. Hatte sie Glück überhaupt verdient? Oder ein gnädiges Vergessen? Man kann wohl davon ausgehen, dass Jennet mit der Zeit und ihrem Erwachsenwerden die Bürde großer Schuld auf ihren Schultern und vor allem in ihrem Kopf nicht einfach so abschütteln konnte. Sie musste damit klar kommen, dass Menschen in den Tod geschickt wurden, weil sie erzählt hatte, was der Richter und wohl auch so manch anderer, der an den Hexenirrsinn glaubte, hören wollte. Natürlich hatte sie gelogen.
In der Bibel heißt es kompromisslos finster:
Der Mund, so da lüget, tötet die Seele.
Klingt schon recht irreparabel für den, der es macht. Christian Friedrich Hebbel sagt es lyrischer. Aber grundsätzlich auch recht kompromisslos.
Was du teurer bezahlst, die Lüge oder die Wahrheit?
Jene kostet dein Ich, diese doch höchstens dein Glück.
Seele tot, das Ich verloren…schaurige Vorstellung. Aber auch ohne gleich an so was zu denken war es mit Sicherheit ein hoher Preis, den Jennet bezahlen musste. Gekümmert hat sich nach dem Prozess niemand mehr um sie. Zumindest ist da nichts bekannt. Und dass eine Familie aus der näheren Umgebung sie aufnahm, ist eine realitätsferne Idee. Niemand wollte freiwillig mit einem Mädchen zu tun haben, das die eigene Mutter angeschwärzt, als Hexe beschuldigt und dem Galgen ausgeliefert hatte. Man konnte ja nicht wissen, ob man der nächste, die nächste sein würde. Und es war ja nicht nur die Mutter gewesen!
Ob ein Mann sich in sie verliebt hat? Ob sie Kinder bekam? Oder ob sie arm und allein blieb, eine Bettlerin, Hure, hässlich gezeichnet vom Schicksal, eine eiskalte Denunziantin, deren Ruf ihr voraus eilte… niemand weiß das.
Falsch beschuldigt: Ironie des Schicksals?
Was man aber weiß: 1633, also 22 Jahre nach den Hexenprozessen von Pendle, tauchte Jennet Device wieder öffentlich auf. Sie lebte wohl immer noch in Pendle. Und sie wurde beschuldigt, eine Hexe zu sein. „Entlarvt“ von einem Kind! Jetzt drohte auch ihr der Tod. Ironie des Schicksals?
Nichts war dran an dem Vorwurf. Eine erlogene Geschichte war es. Die Eltern von Edward Robinson sagten aus, ihr Sohn hätte beim Beerenpflücken zu später Stunde Ungeheuerliches gesehen: Einen Hund, der sich in eine Hexe verwandelte. Die hätte ihn gepackt und in eine Scheune gebracht, in der weitere Hexen gewesen seien. Alle hätten Zaubersprüche gemurmelt, auch laut hinaus geschrien, und seine Angst, diese große Angst…aber er hätte fliehen können, Gott war mit ihm, und welch Riesenglück, fürwahr.
Zwanzig Frauen identifizierte Edward, der in Begleitung seines Vaters auf „Hexensuche“ ging, als die Personen aus der Scheune, darunter Jennet Device.
Nun verhandelte man 1633 nicht mehr so arg unbürokratisch und sprach vorschnelle Todesurteile aus wie noch zu Beginn des Jahrhunderts, sondern schickte den Fall zuerst einmal nach London zur genaueren Überprüfung. Derweil Jennet und die anderen Angeklagten im Gefängnis von Lancaster Castle saßen, just dort, wo Jennets Familie vor ihrem Tod durch den Strang Monate verbracht hatte.
Die Ermittler aus London befragten den jungen Robinson sehr genau. Edward verhaspelte sich, wurde zusehends nervöser und gab schließlich zu, dass alles erfunden sei. Er hätte gar keine Hexen gesehen. Und warum die hanebüchene Geschichte? Schuld war wohl der Vater. Der wollte sie zu Erpressungszwecken nutzen, heißt, die zwanzig Frauen sollten ihm ein Bestechungsgeld zahlen, und Edward hätte keine von ihnen als Hexe identifiziert.
Verbleibt die eine Frage, die nicht beantwortet werden kann: Hätte dieser Vater, es allen Ernstes zu einem Prozess mit möglichen Todesurteilen kommen lassen? Hätte der manipulierte Sohn Edward ohne das professionelle Verhör, das ihn einknicken ließ, jemals ein Wort über Wahrheit und Unwahrheit verloren? Keine Skrupel, keine Moral? Obwohl beide wussten, dass alle zwanzig Frauen nichts mit irgendeiner sogenannten Hexerei zu schaffen hatten? Zumindest nichts, was ihnen hätte nachgewiesen werden können oder was überhaupt zur Debatte stand.
Da kann man sinnieren und spekulieren, sich generell auf den Zeitgeist, speziell auf den gesunden, guten, bösen, wirren oder wachen Geist berufen, die Täter zu Opfern machen oder es sein lassen. Eine Antwort gibt es trotzdem nicht. Und die ganze Geschichte wird nicht netter. Gerechter auch nicht. Ist aber wahrhaftig so passiert. Und damit auch fertig.
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