Der große Schlaf

Raymond Chandler: Der große Schlaf

Zum 80-jährigen Jubiläum begann der Diogenes-Verlag 2019 die Raymond Chandlers Klassiker in einer neuen Übersetzung herauszugeben. Nachdem ich mir das Buch einmal angesehen hatte, das von Frank Heibert neu übersetzt wurde, tendiere ich doch eindeutig zu der Übersetzung von Gunar Ortlepp, die 1974 erschien.

Raymond Chandler sagte einmal, er sei der erste gewesen, der auf realistische Weise über Los Angeles geschrieben habe. Um über einen Ort zu schreiben, sagte er, müsse man ihn lieben oder hassen, oder beides, abwechselnd, so wie man eine Frau liebt. Leere und Langeweile waren zwecklos. L. A. hat ihn nie gelangweilt. Er fand es vielleicht banal, aber niemals leer. Er liebte es (als er 1912 ankam) und hasste es (als er 1946 abreiste), bis es schließlich, wie er sagte, für ihn eine müde alte Hure geworden war. Er hat diese Stadt besser als jeder andere verstanden, ihren Rhythmus und ihre Grobheit, ihre Tankstellen, die verschwenderisch mit Licht gefüllt sind, die Häuser in den Schluchten, die in der Schwärze hängen, den Geruch der Luft, das Gefühl der Winde, den Puls des Ortes, weshalb seine Romane zu keiner Zeit veraltet wirken: Er hat die Essenz der Stadt eingefangen, nicht nur ihre zeitliche Oberfläche.

Chandler

Mit Philip Marlowe schuf er ein individuelles Gewissen, das so stark war, dass es durch nichts korrumpiert werden konnte. Weder Geld, noch Frauen, noch Macht oder Prestige. Mit seiner Kombination aus englischem und amerikanischem Hintergrund verknüpfte Chandler die Mythen des weißen Ritters und des amerikanischen Cowboys und schuf so einen Mann mit einem beängstigenden Moralkodex, der zufällig auch eine der einsamsten Figuren der gesamten amerikanischen Literatur war, ein Mann ohne Freunde, ohne Familie, ohne Haustiere, ohne Vergangenheit, ohne wirkliche Zukunft und, wie es scheint, ohne Wünsche außer der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und einem gelegentlichen Verlangen nach einer Blondine, obwohl Frauen Marlowe nicht wirklich interessierten. Im Großen und Ganzen war er für sie unerreichbar. Chandler verstand, wie die Einsamkeit zu unserer neuen modernen Krankheit wurde, zum Zustand einer ganzen Kultur. Sie ist die Quelle eines Großteils der kontrollierten, halb poetischen Emotionen, die Marlowe und jeder Geschichte von Chandler zugrunde liegen.

Philip Marlowe ist eine der großen Figuren des angloamerikanischen Romans, ein Protagonist, der mit Sherlock Holmes konkurriert und ihn für manche sogar übertrifft. Marlowe ist der Schlüssel für die anhaltende Anziehungskraft dieses ersten Romans und der sechs folgenden. 1951 sagte Chandler zu seinem Verleger:

„Es sieht so aus, als wäre ich ein Leben lang an diesen Mann gebunden“.

Chandler glaubte gern, dass er und Marlowe viel gemeinsam hätten. In mancher Hinsicht war das so, in anderen Punkten nicht. Marlowe war der vollendete Junggeselle, während Chandler an seine Mutter gebunden war, die er verehrte, und später an seine ältere Frau, die er anbetete und auf ein Podest stellte.

Die Wahrheit ist, dass sowohl er als auch sein Privatdetektiv ein Rätsel waren. Marlowe, so sagte er, besaß eine Unschuld, die fast unreif wirken konnte, wenn man den Aufstand gegen eine korrupte Gesellschaft als unreif bezeichnen kann. Er wusste, dass, wenn es eine Hoffnung für die Zukunft gab, sie auf dem Individuum ruhte, dem Mann (oder der Frau), der/die für sich selbst denkt und keine Befehle von oben annimmt.

Es ist schwer zu ermessen, wie radikal „Der große Schlaf“ (The Big Sleep) 1939 der Öffentlichkeit erschien, mit seiner Darstellung einer Welt voller „moralischer Defekte“, wie sehr diese „Studie der Verderbtheit“ verstörte, die von Pornographen und homosexuellen Erpressern, Mafiosi, korrupten Polizisten und reichen Mädchen bevölkert war, die nackt für Drogen posierten, von bösartigen Töchtern, die aus Rachsucht töteten, und von Gangstern, die Politiker kontrollierten. Der Roman schildert ein räuberisches Amerika in der Mitte des Jahrhunderts, in dem das Kaufen und Ausgeben, das Feilschen und Drängen, die Korruption und die Gier und all die miesen kleinen Geheimnisse unter der schnoddrigen, rüden Oberfläche der Stadt den Tod des viktorianischen Schönheitsideals bedeuteten. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Chandler sowohl ein englisch-viktorianischer als auch ein kalifornisch-amerikanischer Schriftsteller war.

Der Titel – „The Big Sleep“ – bezieht sich auf einen Euphemismus für den Tod. Marlowe wird in das Haus des alten Generals Sternwood gerufen, dessen wilde Tochter Carmen von einem zwielichtigen Buchhändler erpresst wird. Die Handlung, die für ihre Komplexität berüchtigt ist, führt bald in eine Welt der Pornografie, des Glücksspiels und des zwielichtigen Hollywoods. Sie ist nicht makellos, und es gibt einige lose Enden. Als Howard Hawks den Roman verfilmte, fragte er: „Wer hat den Chauffeur umgebracht?“, und Chandler antwortete, er habe keine Ahnung. Für ihn war die Handlung immer dem Charakter, der Stimmung und der Atmosphäre untergeordnet.

Seine erste Detektivgeschichte veröffentlichte Chandler Ende 1933 im Magain „Black Mask“.

Zwischen diesen Anfängen und 1938, als er begann, The Big Sleep zu schreiben, schrieb er 21 Black-Mask-Geschichten, in denen er die Qualitäten seines späteren Werks entwickelte und verfeinerte. In den frühen Geschichten finden sich mehrere Marlowe-Prototypen, Schauplätze in Los Angeles, gute und böse Cops, gemischt mit dem üblichen Krimicocktail aus Gewalt, Drogen, Sex und Schnaps.

Als er „The Big Sleep“ schrieb, „kannibalisierte“ Chandler (so seine eigene Beschreibung) seine Geschichten. Die zentrale Handlung des Romans stammt aus zwei Geschichten, „Mord im Regen“ (veröffentlicht 1935) und „Der Vorhang“ (veröffentlicht 1936). Beide Geschichten standen für sich allein und hatten keine gemeinsamen Figuren, aber sie hatten Ähnlichkeiten. In beiden gibt es einen starken Vater, der von seiner wilden Tochter bedrängt wird. Chandler verschmolz die beiden Väter zu einer neuen Figur und tat dasselbe mit den beiden Töchtern der Geschichten. Es gibt auch noch andere Quellen. Wie Carmen Sternwood hatte seine eigene, sehr geliebte Frau Cissy als junge Frau nackt posiert und wie Carmen Opium genommen. Marlowes Alkoholprobleme spiegeln Chandlers eigene latente Alkoholsucht wider. In praktisch jeder Szene eines Chandler-Romans zündet sich jemand eine Zigarette an oder trinkt einen Schluck.

Chandler hat in seinen Büchern keine Wohlfühlwelt geschaffen. Er ließ es zu, dass man sich unglücklich gegenüber der Gesellschaft fühlte, zu der man schließlich ebenfalls gehörte. Er erlebte das Aufkommen des Fernsehens und der Massenwerbung: Das Fernsehen hatte seiner Meinung nach Potential, obwohl es eine solche Passivität erzeugte, dass man beim Zuschauen wie im Urschlamm versank, während die Werbung ein ausgeklügelter Betrug war, eine Verschwendung menschlicher Intelligenz, ein Betrug an der Öffentlichkeit, eine von Natur aus unehrliche Tätigkeit, die ihn garantiert dazu brachte, jedes Produkt zu hassen, das angepriesen wurde. Auch die neue Konsumkultur nach dem Zweiten Weltkrieg gefiel ihm nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass das komplett geflieste Badezimmer zum neuen Standard der Zivilisation geworden war. Besonders hasste er die Idee der eingebauten Obsoleszenz – ein Begriff, der leider kaum noch in den Mund genommen wird.

„Egal, wie man lebt, am Ende stirbt man allein, wie ein Hund in der Gosse“, schrieb er an seine ehemalige Sekretärin Dorothy Fisher, nicht lange nach Cissys Tod. Das ist eine harte Aussage von einem Mann, der im Herzen ein Romantiker war. Leider hat sie sich für ihn bewahrheitet. Und doch lebt sein Werk weiter – diese sieben bemerkenswerten Romane und etwa zwei Dutzend Erzählungen, mit denen man sich so köstlich amüsieren kann. Der aufmerksame Leser kann noch viel mehr finden. Viele Schriftsteller kommen und gehen, aber Chandler ist einer von denen, die für immer bleiben werden.

MEP

MEP

Michael Perkampus wurde am 2. April 1969 im Fichtelgebirge geboren. Als Solitär der deutschen Literatur arbeitet er in seinen Texten mit "Bewusstseinsfragmenten" und "Synkopen", einer "philosophischen Phantastik". Von 2005 - 2010 moderierte er die Schweizer Literatursendung "Seitenwind" in Winterthur. Letzte Erzählungen erschienen im Blitz-Verlag unter "Das Kriegspferd", herausgegeben von Silke Brandt. Im Januar 2015 ging das Phantastikon online, später folgte der gleichnamige Podcast. 2018 gab er die Anthologie "Miskatonic Avenue" heraus, deren Namen jetzt für eine Rubrik im Magazin steht. Wer sich für Metaebenen interessiert, sollte sich den Blog "Crossroads" anschauen: https://crossroads.phantastikon.de

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