Wenn man sich etwas im Netz umsieht, dann gibt es eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Anhängern von Festas „Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ und „H.P. Lovecrafts Schriften des Grauens“ aus dem Blitz-Verlag, obwohl beide Titelreihen eigentlich bei Blitz entstanden sind. über diese Querelen möchte ich mich an dieser Stelle nicht auslassen, aber während Festa mit seiner Reihe einen Schlussstrich gezogen hat, konnte Blitz keinen Geringeren als Jörg Kleudgen für die Redaktion gewinnen.
Die Anthologie „Xulhu“ ist eine der neueren Veröffentlichungen dieser Reihe, allesamt schön aufgemachte Taschenbücher. In vorliegendem Fall wurde das Cover von Ernst Wurdack gezeichnet, und ich gehe wirklich selten auf Cover ein, aber wenn man sich die meisten Cover heutzutage anschaut – vor allem bei den Publikumsverlagen – wird einem schlecht. Da ragt der Blitz-Verlag wie ein gewaltiges Felsmassiv hervor.
Sechs Geschichten erwarten uns nach einem kryptischen Vorwort von Jörg Kleudgen, in dem er erklärt, dass er in den 70er Jahren in einem Reiseführer auf eine merkwürdige Karte stieß, die terra cthulhiana, die uns auf den ersten Seiten auch gezeigt wird. Es handelt sich dabei um eine Weltkarte, auf der sechs Icons zu sehen sind, von Venedig bis zur Südsee. Es versteht sich von selbst, dass es sich hier um Schauplätze der folgenden Geschichten handelt.
Tobias Reckermann: Xulhu
Den Auftakt macht eine sehr gelungene Reise nach Afrika. Reckermann macht gleich von Anfang an klar, dass man sich an Lovecraft annähern kann, ohne irgendetwas von ihm selbst übernehmen zu müssen. wer den Autor kennt, der weiß, dass er mit einer dichten Sprache an dem zu kratzen versteht, was wir als gegeben oder gesichert annehmen wollen. Reckermann ist kompromisslos in seiner Ausführung und sicher einer der besten Autoren dunkler Phantastik, die es in unseren Breitengraden zu lesen gibt. Der Erzähler, ein studierter Archäologe und Ethnologe begibt sich nach Zentralafrika, um ein rätselhaftes und erstaunliches Volk aufzusuchen: die Aneoi. Bereits der Beiname „Muette“ weist auf die Besonderheit dieses Volksstammes hin: Weder sprechen sie, noch kommunizieren sie auf irgendeine uns bekannte Weise. Und doch funktioniert ihr soziales Gefüge perfekt. Der Erzähler betreibt also dort seine Feldforschung und lässt sich derart auf den Stamme in, dass sich sein Bewusstsein verändert. Die Kluft zwischen der uns bekannten Kommunikation, die in ihrer Hauptsache auf Sprache fußt – und einem Urgrund, der im Wachzustand unmöglich mehr wahrgenommen werden kann, ist schließlich das Dilemma des Erzählers, dem es gelingt, einer der Aneoi zu werden. Was das bedeutet und was der Preis dafür ist, das erfährt der Leser in dieser äußerst klugen, äußerst dichten und raffinierten Geschichte.
Ian Delacroix: Lasst die Puppen zu mir kommen!
Eine Geschichte, die zumindest in einer Art Venedig (oder Traumvenedig) spielt. Weniger aber eine Erzählung als eine Phantasmagorie, die mit traumartigen Fantasy-Versatzstücken arbeitet. Der Autor möge mir verzeihen, aber ich fand sie in ihrer Komposition ziemlich wirr. Man kann jetzt natürlich behaupten, so sei das nun mal in Träumen, aber das stimmt nicht. Man kann auch in einer Phantasmagorie klare Bilder schaffen. Der Herr stammt aus Italien und kann sicher das karnevaleske Flair der Venezianer gut einfangen, und die Puppenthematik, die hier auf eine groteske Weise dargestellt wird, hat zugegeben ihren Reiz, aber tatsächlich kam ich – und das mag etwas rein persönliches sein – mit diesem chaotischen Stil nicht zurecht.
René Feldvoß: Früchte der Südsee
Anfänglich eine Abenteuergeschichte, wie sie in den Gründerjahren der Weird Fiction stilprägend geworden ist. Klassisch ist hier auch die Geschichte in einer Geschichte. Man kennt das: ein Bericht oder eine Aufzeichnung wird vom Erzähler gefunden (hier eben die Notizen über anfängliches Abenteuer in der Südsee) und dann weiterverfolgt, wobei alles in einer Katastrophe endet oder zumindest anderweitig lebensentscheidend wirkt. Tatsächlich trägt Feldvoß diese Geschichte solide und unaufgeregt vor, in der es um seltsame Beeren geht, die von einer Insel nach Amerika gelangen. Das Thema hat mich tatsächlich interessiert, das Ende aber war dann aber doch etwas plump und stereotyp.
Serhiy Krykun: Der Meeresteufel
Ein Kapitän und ein Leuchtturmwärter. Besser gesagt: ein wahnsinniger Kapitän und ein wahnsinniger Leuchtturmwärter, beide irgendwo in der Nähe des amerikanischen Kontinents, ohne voneinander zu wissen. Die Geschichte ist recht kurz und springt vom Schiff, das auf den Leuchtturm zusteuert, und dem Leuchtturm in kurzen Kapiteln hin und her. Außer dem offensichtlichen Wahnsinn der beiden Protagonisten, teilen sie ihren unausweichlichen Untergang und eine Art Höllensuppe, die sie umgibt. Man könnte ihr Schicksal durchaus als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnen, aber auch als eine Art Höllenfahrt. Krykhun lässt genug Raum für Interpretation, indem er gerade so viel Information frei gibt, dass man den letzten halluzinatorischen Momenten der beiden Figuren genüsslich beiwohnen kann, dabei aber nichts entlarvt wird. Krykhun stammt aus der Ukraine und bezeichnet sich selbst als „Nightmare Illustrator“. Als solches hat er Bücher für Clive Barker, Thomas Ligotti oder William Gibson, Richard Laymon usw. mit Zeichnungen versehen. Aber er übersetzt auch und schreibt SciFi- und Horrorstories, die selbst in Amerika abgedruckt wurden. Natürlich ist diese Geschichte hier zu kurz, um sich eine umfassende Meinung zu bilden, aber sie ist stimmungsvoll in Szene gesetzt.
Rainer Zuch: Das Gasthaus der Götter
Vielleicht handelt es sich bei diesem Gasthaus der Götter um eine Speisekammer, obwohl dort nur getrunken wird. Aber ‚Trinkhalle‘ wäre nicht der richtige Begriff. Der Erzähler, der am Ende mit dem Leben davon kommen wird, um uns von seinen Erlebnissen in einem sehr alten Viertel einer alten Stadt zu berichten, greift dabei auf einige Lovecraft-Tropen – verwinkelte und enge Gassen zum Beispiel, die auf keiner Karte verzeichnet sind – zurück Die Stadt ist nicht näher bezeichnet, aber die Atmosphäre (und Jörg Kleudgens Vorwort) lassen vermuten, dass es sich um Prag handeln könnte. Dort führt ihn sein Studienkollege Viëtor hin, ebenfalls eine fast typische Figur aus dem Mythos, interessiert an Philosophie und obskuren Büchern; und sie trinken dort regelmäßig ein merkwürdiges Bier aus Krügen. Zunehmend verändert sich dadurch die Wahrnehmung unseres Erzählers, und an einer Stelle wird der Kern der Sache deutlich: „Wir trinken von ihnen und sie werden von uns trinken,“ sagt Viëtor an einer Stelle. Das permanente halluzinatorische traumdunkle Wetter ist in der Erzählung fast schon zu stark angelegt, verbreitet aber die richtige Stimmung. Dr. Rainer Zuch dürfte sich mit Atmosphäre und alten Bauwerken auch gut auskennen, schließlich ist der Herr Kunsthistoriker. In der Goblin Press liegt außerdem sein Thronos vor, den ich mir demnächst etwas genauer anschauen werde. Jörg Kleudgen schrieb mir per Mail, dass dieser permanent ausverkauft zu sein scheint und er mit dem Nachdruck kaum hinterher kommt.
Jörg Kleudgen: Folge mir ins Dunkel!
Mit einer kleine bösen Story beschließt Jörg Kleudgen dieses Büchlein von 168 Seiten. Ein alternder Mann gelangt zufällig über eine Randnotiz in einem antiquierten Reisejournal an die Nachricht, dass in einem Schloss in Eisenberg Ewiges Leben auf ihn wartet. Er macht sich auf nach Stolzenstein zu diesem verlassenen und recht verwitterten Gebäude und findet das Buch, das ihm das begehrte Geheimnis offenbart, aber kaum so, wie er sich das vorgestellt haben dürfte. Es gibt hier ein doppeltes oder gesteigertes Ende, das dadurch noch eine Pointe verpasst bekommt.
Die Sammlung ist in sich schlüssig, was die teilnehmenden Autoren betrifft, auch wenn mir nicht alle Geschichten gleichermaßen gefallen ab. Herausragend ist Tobias Reckermanns Beitrag zu Beginn und Jörg Kleudgens Abschluss, auch wenn Letzteres eher ein kleines Gimmick ist. Der Rest bewegt sich in einem durchaus lesbaren Mittelmaß – was die Geschichten betrifft – aber im oberen Segment, was Stil und schriftstellerisches Können angeht. Insgesamt kann man die Sammlung also doch als gelungen bezeichnen.
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