Sie lesen in ihrer persönlichen Bibel: Dem „Book of Shadows“, Buch der Schatten. Sozusagen Fachlektüre, die das legendäre „Grimoire“, uraltes, ultimatives Zauberwerk der Magier noch bis ins 18. Jahrhundert hinein, als Quelle hat und in zeitgemäss aufgearbeiteter Form auf dem Nachttisch der modernen Hexe liegt.
Der Titel klingt düster nach Furcht, Dunkelheit und Tod, , aber er lässt sich tatsächlich mit einem weniger mulmigen Gefühl deuten: In der Mythologie gelten Schatten als Spiegelbilder der Seele, als zweites Ich. Sie sind lebendig. Mysteriös lebendig. Oder eben ähnlich. Und sie stehen für die Art und Kunst, Erinnerungen, Erlebnisse und Erfahrungen der Hexen. Für ihr Wissen und ihre Tradition. Die wird von alter Sitte her auch mit Kessel, Kelch und Kerzen gepflegt, mit Tarot und Runen, Dolch, Zauberstab und Besen. Wobei letztgenanntes der Ritualinstrumente, – so nennen die Hexen ihre Pflicht-Utensilien -, nur zum Reinigen des Altars verwendet wird. Sagt man.
In den Hexenzirkeln, – Coven, als Begriff (auch!) durchaus bekannt durch die American Horror Story, in der ja alles nicht ganz echt ist – , wird Wert darauf gelegt, nicht in einem Atemzug eine von etlichen Sekten genannt zu werden. Man versteht sich als sehr spezifische Glaubensgemeinschaft mit ihrer ganz besonderen Religion.
Schatten: Spiegelbilder der Seele
Es ist die Religion der Wiccan, angelsächsisch: Hexen, Zauberer, eine neuheidnische Glaubensrichtung ohne wirkliche Dogmen, deren Anhänger bzw. Mitglieder vor allem ihre individuelle Spiritualität ausleben. Organisiert, – oder besser: zuhause als Geichgesinnte – , sind sie in den einzelnen Hexenzirkeln (Coven) mit traditionell 13 Personen inclusive Hohepriesterin und Hohepriester, die alle ihr persönliches „Buch der Schatten“ besitzen. Es wird eigenständig ergänzt, Grundgerüst sind liturgische Rituale und Texte. Zentrales Gebot:
„Tu, was du willst, solange es nicht schadet.“
Nun kann man das recht ungezwungen verstehen. Tatsächlich ist es auch eine sehr liberale Sichtweise aller Dinge, die exerziert wird. Eine, die vor allem in den 1970ern als Jahrzehnt, das Woodstock folgte und ein zeitlich buntes Experimentierterrain bot für jewede Orientierung, auf ein gut hörbares Echo stieß. Wicca wurde richtig bekannt. Und Hexen wurden noch populärer.
Der offizielle Startschuss für den modernen Hexenkult fiel 1951 in England mit dem New Forst Coven und dem Bricket Wood Coven, letzterer gegründet von dem britischen Okkultisten und Autor Gerald Brousseau Gardner (1884 – 1964), der selbt jahrlang aktiv in geheimen Hexenorden war. Er gilt als Vater der (Gardnerian-)Wicca-Religion und damit als Initiator für zahlreiche Coven im Commonwealth, im europäischen Raum, in den USA. 1949 erschien sein Roman High Magic’s Aid unter dem Pseudonym Scir, ein fiktional aufklärendes Buch, das für Verständnis und Förderung der Hexerei sorgen sollte. Es wurde, zumindest in besagten Kreisen, ein Fels des Anstosses. Und soll bewirkt haben, dass 1951 im Vereinigten Königreich der Witchcraft Act, ergo das Verbot, Hexerei „vorzugaukeln“, aufgehoben wurde, das seit 1736 gültig war und, mal positiv betrachtet, das „Recht“ auf Hexenverfolgung schwächte und schließlich definitiv ersetzte.
Einzigartig seltsame Geschichte
Das alles, bis zu dieser Stelle, mutet vielleicht eine Spur zu selbstverständlich, zu offenbar an. Aber die lange Geschichte der Hexen, die voller Geheimnisse steckt, ist keine Glaubensfrage. Keine Pro- oder Contra-Angelegenheit. Was wir wissen: Das längste und finsterste Kapitel ihrer so einzigartig seltsamen Geschichte wurde mit Blut geschrieben. Es handelt von Unrecht und Irrdenken, von menschlicher Fehlbarkeit und Grausamkeit. Von Verrat und Lügen, grotesken Gründen und eiskalter Berechnung. Wir haben dieses grauenvolle Kapitel vor Augen. Es fand sein Ende zu Beginn des 18. Jahrhunderts.
Den Menschen ging es allgemein nicht mehr so schlecht, dass sie verzweifelt und gezielt manipuliert nach Sündenböcken suchen mussten. Hunger, die Furcht vor Krieg und Armut, der Überlebenskampf nach schlechten Ernten, die hohe Sterblichkeitsrate wichen deutlich besseren Lebensbedingungen. Politische und gesetzliche Reformen traten in Kraft, Wissenschaft und Intellekt beanspruchten mehr und mehr ihren Platz, und ganz im Zuge des neuen, modernen Lebensbewusstseins gehörten in Europa die Hexenverfolgungen mit dem Ausklang des 17. Jahrhunderts nach und nach gänzlich der Vergangenheit an.
Die letzte als Hexe hingerichtete Frau war die Magd Anna Göldi, 1782 in der Schweiz wegen Giftmordes zum Tode verurteilt, wahrhaftig erst 2007 rehabilitiert. Obgleich schon damals ein Sturm der Entrüstüng losgegangen war: Eine Anklage wegen Hexerei? Das gehörte ins barbarische Mittelalter, das sollte ja nunmehr vorbei sein. Offiziell war und ist es das auch. Zwar werden in so einigen Winkeln der Welt auch heute noch Menschen eben aus diesem so fragwürdigen, auf purem Aberglauben und eben auch Angst basierenden Grund umgebracht, aber in Europa wird das seitdem bekanntlich nicht mehr gemacht.
Freilich: Aberglauben und Angst verloren sich natürlich auch hier nicht über Nacht. Sie blieben wie die Vorurteile und die Skepsis im 19. und 20. Jahrhundert bestehen und überdauerten damit eine geduldete Toleranz Frauen und Männern gegenüber, die sich mit Magie auskennen und sie praktizieren auf den Spuren der Alten, die seit Jahrtausenden in allen Kulturen zuhause waren.
Auserzählt ist die Geschichte der Hexen nicht mit dem definitiven Schlußstrich, der unter die Strafverfolgung, Misshandlung und Exekution der als Hexen Beschuldigten gesetzt wurde. Sie sind nicht ausgestorben oder wurden bis auf die letzte Seele ausgerottet, sie waren existent und sind einfach weiterhin da. Zumindest für diejenigen, die an sie glauben und von ihrer auf so geheimnisvolle Art faszinierenden Macht überzeugt sind. Und vor allem für diejenigen, die behaupten, eine Hexe zu sein.
1921 veröffentlichte die britische Anthropologin und Ägyptologin Margret Alice Murray (1863 – 1963) das Buch „Der Hexenkult in Westeuropa“, in dem sie recht phantastische Beweise für einen Hexen-Stammbaum aufstellt. Sie berichtet von einem Jahrhunderte alten Untergrundsystem heidnischen Widerstands gegen die christlische Kirche mit dem Ziel der Gleichberechtigung der Frau, absolut freier Entscheidungsgewalt und sexueller Offenheit. Ein System, das sich aus einem Fruchtbarkeitskult entwickelt hat, der vom Altertum über das Mittelalter bis in die Gegenwart lebendig geblieben ist und der die Hexen mit einer Blutlinie verbindet. Sie sind demnach also alle irgendwie miteinander verwandt und ihren Genen, Zielen und Fähigkeiten gegenüber verpflichtet.
Historiker nehmen das alles nicht wirklich ernst, zumal Murray kaum Quellen nennt, aber ihre Behauptung, die Hexerei sei in der Wicca-Religion sozusagen wieder auferstanden, kann so (oder ungefähr) wohl stehen bleiben.
Ein Wicca-Coven in der heutigen Zeit, wie man ihn sich vorstellen soll und vielleicht auch gern möchte, ist autark, familiär und weder fordernd noch isolierend. Heißt: Niemand muss sein Erspartes abdrücken oder Ehemann und Kinder verlassen. Und niemand scheut die Öffentlichkeit. Hexen sind unter uns. Echte? Falsche? Fehlt der Glaube? Oder der Instinkt, der richtig leiten könnte? In der Serie Grimm sind Hexen im Zivilen wunderschön, magisch mächtig und furchteinflößend hässlich, wenn sie ihr wahres Gesicht zeigen. Solche gibt’s dann wohl eher wirklich nicht. Vielleicht aber doch.
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