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Die anhaltende Faszination urbaner Legenden

Wir haben ein komplexes Verhältnis zur Angst. Einerseits versuchen wir, alles zu vermeiden, was uns schaden könnte, und lernen von klein auf, uns vor Gefahren zu schützen. Andererseits übt das Unbekannte und Unheimliche in der Dunkelheit eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf uns aus, so dass die Mutigsten unter uns diese Erfahrungen aktiv suchen. Ein Beispiel dafür ist unsere Begeisterung für urbane Legenden. Diese Erzählungen sind mehr als nur Geschichten – sie tragen das verlockende Versprechen in sich, dass in ihnen ein Körnchen Wahrheit steckt. Jeder kennt sie: Bloody Mary, der verschwundene Anhalter oder Krokodile in der Kanalisation. Weil sie uns in der Kindheit oft erzählt wurden, sind sie tief in unserem Gedächtnis verankert.

Die faszinierendsten urbanen Legenden sind gleichermaßen beunruhigend und doch auf eine gewisse Weise harmlos. Sie spielen sich in beängstigenden Situationen ab, die uns aber nicht direkt betreffen. Jeder von uns hat schon von dem „Freund eines Freundes“ gehört, der vor einem Spiegel ein verfluchtes Ritual durchgeführt oder sich im Wald verirrt hat – jedoch ohne klare Beweise für den Ausgang der Geschichte. Diese Legenden werden hinter vorgehaltener Hand weitererzählt, und Mutproben entstehen, bis jemand in der Runde mutig oder töricht genug ist, es selbst zu versuchen. Was danach geschieht, hängt davon ab, wer die Geschichte erzählt. Erzählt man sie Fremden, endet die Geschichte oft schlecht für den Protagonisten. So beginnt der Kreislauf von Neuem. Auch wenn der Begriff FOMO (Fear of Missing Out – Angst, etwas zu verpassen) erst kürzlich populär geworden ist, steckt genau diese Angst vor dem Verpassen im Kern dieser Erzählungen. Natürlich glauben wir nicht wirklich daran, schließlich sind sie absurd – aber was, wenn sie doch wahr sind? Diese kleine Unsicherheit könnte das Geheimnis der Langlebigkeit urbaner Legenden sein – nicht bloße Leichtgläubigkeit, sondern ein Hauch von Zweifel.

Diese Erzählungen sind wie eine angelehnte Tür, und die Menschen können es nicht ertragen, nicht zu wissen, was sich dahinter verbirgt. Also treten wir hindurch und erleben entweder Freude oder einen kurzen Schreck, der uns dazu motiviert, die Tradition weiterzuführen. Es müssen nicht viele Opfer mit einer Legende verbunden sein, um sie wirksam zu machen; oft reicht schon die Vorstellungskraft aus. Heute geht es weniger um reale Gefahren als um den Nervenkitzel, den sie auslösen. Während manche Menschen extreme Sportarten wie Bungeejumping oder Fallschirmspringen betreiben, suchen andere den kalten Hauch eines Geistes im Nacken – oder zumindest den Nervenkitzel, der damit einhergeht. Die erfolgreichsten urbanen Legenden basieren auf einfachen Konzepten; sind sie zu komplex, werden sie nicht weiterverbreitet. Ein paar Worte, die man nachsprechen soll, oder eine einfache Handlung genügen. Das macht sie für Erwachsene und Kinder gleichermaßen ansprechend – und sichert ihr Überleben.

Vertraute Szenarien wie Spiegel, Babysitting, verlassene Gebäude oder nächtliche Autofahrten können plötzlich bedrohlich wirken, wenn sie mit der passenden urbanen Legende verknüpft werden. Ein harmloser Moment kann plötzlich über Leben und Tod entscheiden, wenn man die Regeln nicht kennt oder die falschen Entscheidungen trifft. Wer mit urbanen Legenden nicht vertraut ist, mag sich über die Ängste anderer lustig machen. Aber ich erinnere mich noch gut an das mulmige Gefühl, als ich nachts über einsame Landstraßen fuhr, während meine Freunde Witze über den Geist vom Ebersberger Forst machten. Diese Geschichte hat uns in der Jugend begleitet: die Sichtung einer weißen Frau nach einem tödlichen Autounfall in den 1940er Jahren, bei dem eine Frau überfahren und ihre Leiche einfach ins Gebüsch gezehrt wurde. Seither kursieren Geschichten über eine Anhalterin, die plötzlich vom Rücksitz verschwindet, oder plötzlich in das Lenkrad greift.

Es gibt zweifellos Parallelen zu anderen „Spukstraßen“-Legenden, so viele, dass es schwer ist zu sagen, was wirklich passiert ist und was aus anderen Erzählungen übernommen wurde. Als ich jünger war, hätte mich jedoch niemand vom Gegenteil überzeugen können. Der Schrecken, den ich jedes Mal fühlte, wenn ich diese Strecke fuhr, war real genug … vielleicht verstärkt durch die schadenfrohen Kommentare meiner Freunde auf dem Rücksitz. Geistergeschichten leben von ihrer mündlichen Überlieferung und der Fähigkeit, in wenigen Worten erzählt zu werden. Wenn man eine urbane Legende nicht in einem Satz zusammenfassen kann, ist sie schon tot, bevor sie ihr erstes „Opfer“ findet. Aber sie sind auch Mahnungen, und das führt uns zum letzten Grund, warum sie weitergegeben werden.

Wenn die Narren ihre gerechte Strafe erhalten, fühlt sich das Publikum bestätigt. Dabei sollten wir mittlerweile wissen, dass uns selbst dasselbe Schicksal ereilen könnte. Doch urbane Legenden lassen wenig Raum für Mitgefühl. Wenn sie so leicht zu erfinden sind, sollten sie auch leicht ignoriert werden können. Aber diese leise Stimme im Hinterkopf bleibt hartnäckig und flüstert: Versuch es doch. Es wird schon nichts passieren …


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