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Review / Das wahre Motiv / Uta Seeburg

Es steht ohne Zweifel fest, dass das ausgehende neunzehnte Jahrhundert eine Zeit der Innovationen und des Wandels war. Kein Wunder, dass es dort für Autoren aller Art ein Fest der Erzählkunst zu feiern gibt, sobald man seine Figuren und seine Geschichte gefunden hat. Auf Uta Seeburg trifft das zu. Auch ihr zweiter Roman um den „falschen Preußen“ Wilhelm von Gryszinski ist ein sprachliches Fest, gleichzeitig vergnüglich, spannend und historisch mit allen bunten Farben versehen, die eine vergangene Epoche lebendig und authentisch erblühen lässt.

Umbrüche – Spurenlese – Bratensemmel

Wenn die Autorin ihr erstes Buch auf die drei Worte „Umbrüche – Spurenlesen – Bratensemmel“ eindampft, trifft sie den Kern zwar haargenau, stapelt aber auch etwas tief, denn sie achtet auf jedes Detail, als wäre sie eine Augenzeugin der Zeit und des Ortes, die sie beschreibt. Auch auf „Das wahre Motiv“ trifft diese Dreifaltigkeit zu, aber eines wird sofort klar: München war nie lebendiger als in den Geschichten der gebürtigen Berlinerin, die neben Komparatistik auch in Kunstgeschichte promovierte.

Wir schreiben das Jahr 1895. Es ist zweifellos das „Goldene Zeitalter“ Münchens, in dem diese Kriminalgeschichte angesiedelt ist, die auch zum ersten Mal das Phänomen des „Mehrfachmörders“ in die noch rudimentäre bayerische Ermittlungsarbeit einführt, ein neues Phänomen, das man noch gar nicht begreifen kann. Natürlich hat man von der britischen Insel die jüngste Aufruhr um Jack the Ripper mitbekommen. Uta Seeburg lässt es sich nicht nehmen, einen der damals Verdächtigen am Rande ins Spiel zu bringen. Gemeint ist der Maler Walter Sickert, der namentlich zwar nie erwähnt wird, aber als in München gebürtiger Engländer eine Zeitlang die Geschehnisse als Schatten flankiert, weil er sich doch gerade in der Residenzstadt aufhält, als mehrere Morde im Künstlermilieu geschehen. Und Kunst, das heißt natürlich Schwabing, das „versammelte Babylon, die neun Kreise der Hölle und jedes verlotterte Freudenhaus des deutschen Kaiserreichs.“

Mörder in Schwabylon

Obwohl Schwabing älter als München ist, war es irgendwann nur noch ein Stadtteil der Weltstadt. Nichtsdestotrotz war Schwabing um 1900 nicht weniger berühmt für seine Bohème wie der Pariser Montmartre. Ein Paradies für Künstler und Schlawiner aller Art, eigentlich das bedeutendste Kunstzentrum, das je auf deutschem Boden existiert hat. Dichter, Maler, Philosophen, Schauspieler, Regisseure, Musiker, Wissenschaftler, Okkultisten, Mystiker und Anarchisten lebten hier zusammen, und kein Skandal war dem nördlichen Stadtteil fremd.

Jetzt aber geht ein Mörder um, der seine Opfer nach bekannten Figuren aus der griechischen Mythologie in Szene setzt. Adonis, Narziss, Prometheus und Ikarus. Die Opfer sind meist gutaussehende junge Männer, die auch in Anton Ažbes berühmter Malschule Modell saßen. Der preußische Sonderermittler im Dienste der Königlich Bayerischen Polizei nimmt sich der Sache auf seine gewohnt gutmütige Art an. Seine Verfressenheit und sein immer umfangreich werdender Bauch trüben seinen kriminalistischen Spürsinn nicht im geringsten. Ganz im Gegenteil scheint er die die Münchner Küche, den Viktualienmarkt, die verführerisch duftenden Töpfe und gebackenen Buchteln seiner Wirtin, und so manchen Imbiss dringend zu brauchen, um überhaupt denken zu können. Diese Theorie erklärt er seiner Frau Sophie einmal so:

Hatte er die Idee also erst mal mithilfe einer, beispielsweise, Bratensemmel eingefangen, so fügten diese sich dort unten [in seinem Bauch] in einem wahrhaft alchimistischen Prozess zusammen, um darauf phönixhaft und neu geordnet wieder emporzusteigen.

Uta Seeburg: Das wahre Motiv

Doch auch wenn Seeburg die schönsten Worte und Beschreibungen des kulinarischen Glücks anwendet, handelt es sich hier keineswegs um einen der gerade in Mode stehenden „kulinarischen Krimis“. Der Genuss ist eher eine Wesensart des preußischen Ermittlers und eine Bank des Humors dieser großartigen Reihe.

Ausflug in die Bohème

Das Spannungsfeld des Romans wird allerdings nicht nur durch die skurrilen Morde und die großartigen Figuren aufrecht erhalten, sondern auch durch Verpflichtungen und Veränderungen erreicht, die in der Luft liegen. Zum einen wäre da Gryszinskis Frau Sophie, die es sich gestattet hat, heimlich einen Kriminalroman zu schreiben, für den sie tatsächlich einen Verleger gefunden hat. Natürlich in Schwabing. Für eine Frau von Stand eine unerhörte Sache, vor allem, weil sie ihn auch unter ihrem tatsächlichen Namen veröffentlichen will, was sofort die Alarmglocken von Wilhelms Eltern in Berlin schrillen lässt.

Die Preußen mischen sich ein

Doch all das bereitet Grysinski vielleicht nicht solche Probleme wie die neuerliche Einmischung und Forderung der Preußen, die erneut seine Loyalität erzwingen. Da Wilhelm auch Reserveoffizier der preußischen Armee ist, kann er auch ganz einfach berufen werden, um was es sich auch immer handeln mag. Also quartiert sich der preußische Spion Carl-Philipp von Straven erneut bei den Grysinskis in der Liebigstraße im Stadtteil Lahel als angeblicher Schulfreund ein. Das führte bereits im ersten Band zu einigen burlesken Spannungen. Im vorliegenden Fall soll Grysinski eine Gruppe von Anarchisten bespitzeln, die angeblich ein Attentat auf den Kaiser planen. Und so infiltriert Wilhelm eine kleine Schwabinger Gruppe, sicher, dass diese exzentrischen jungen Leute zu keinem Attentat fähig sind. Tatsächlich aber kommt ihm das bei seinem Mordfall allerdings gar nicht so ungelegen, denn auch die Anarchisten gehören zur Künstlerkolonie, die ja ohnehin observiert werden muss.

Ein weiterer Skandal

Im Grunde gibt es hier drei eigentliche Fälle. Der Mehrfachmord, eine angebliche Verschwörung, und zu guter Letzt einen Fälschungsskandal um den Münchner Malerfürsten Franz von Lenbach.

Ein Angestellter Lenbachs, der für dessen Garten und den Maschinenpark zur Beleuchtung des Hauses zuständig gewesen war, hatte unhöflicherweise Skizzen, Photographien und halb fertige Bilder aus Lenbachs Depot geklaut. Diese waren, von einem zwielichtigen Kunstmaler etwas aufgehübscht, als originale Lenbachs verkauft und von angesehenen Händlern weitergehandelt worden.

Uta Seeburg: Das wahre Motiv

Für die damalige Zeit eine pikante Sache, die auch auf den Prinzregenten Luitpold abfärbte, der ein großer Förderer Lenbachs war.

Die Schilderung der Zeit

Uta Seeburg fügt diese drei Ereignisse am Ende zusammen, wobei angemerkt werden muss, dass sie das dichte und ausladende Erzählen gegen Ende hin immer mehr aufgibt und es so aussieht, als wirke ein deus ex machina gehörig mit. Zum Beispiel wird die elterliche Forderung nur noch in einem Satz von Grysinski selbst aufgelöst und tatsächlich kein Übeltäter verhaftet, weil sich die Verhängnisse auf andere Art lösen. Auch über den Kollegen Georg Polte wird kein Wort mehr verschwendet, der doch immerhin als Leiter der Brigade für Betrugsfälle den Fälschungsskandal untersuchte.

Doch wie gesagt liegt der Schwerpunkt hier auf den vollmundigen Schilderungen der Zeit und der Figuren mehr als auf einem ausgeklügelten Kriminalfall. Sein wilder Kutscher Gustav Apfelböck, der Barbier Carigi, Frau Brunner, die beiden Wachtmeister Eberle und Voglmaier, die neben historischen Figuren wie Frank Wedekind, Franz von Lenbach, oder dem Prinzregenten selbst ins Rennen geschickt werden, fügen sich anhand der satten Sprache, die Seeburg nutzt, zu einem sehr unterhaltsamen Abenteuer.

Am Ende bleibt der Wunsch nach dem nächsten Teil, denn das Leben im Hause Grysinski wird sich nach all den Ereignissen doch etwas verändert haben, gehören sie jetzt doch durchs Sophies anvisierte Schriftstellerkarriere zur Münchner … Bohème.

Erschienen bei Harper-Collins.


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