Sophies Geschichte ist furchtbar. Sie ist unfassbar traurig. Die Geschichte macht extrem betroffen. Auch extrem zornig. Und so verdammt hilflos, weil man sich unweigerlich selbst die schreckliche Frage stellt: Für welchen Menschen würde man sich entscheiden, könnte man nur einen retten? Wie verdammt glücklich dürfen wir uns schätzen, wenn wir niemals wählen müssen.
Von der jungen polnischen Mutter in Sophies Entscheidung wird das verlangt. Es ist der Zweite Weltkrieg, Sophie und ihre beiden Kinder Jan und Eva, sieben und vier Jahre alt, sind auf dem Weg nach Auschwitz. Ein SS-Arzt spricht sie vor der Rampe am Zug an. „Du bist so schön, ich möchte mit dir schlafen.“. Sie hat Angst, weicht aus, hält die Kleinen fest umklammert. Er wird wütend, fragt sie, ob sie „eine Polackin, eine dreckige Kommunistin?“ sei. Oder Christin? „Glaubst du an den Erlöser? – Du kannst eins deiner Kinder behalten. Los, wähle!“
Glaubst du an den Erlöser?
Entsetzt weicht Sophie zurück, der Mann wiederholt seinen Satz: „Los, wähle! Oder ich nehme dir beide weg.“ Er ruft einen Wachmann, der sie packen und wegbringen soll. Und Sophie schreit weinend:
„Nehmen Sie die Kleine! Nehmen Sie die Kleine!“
Diese Szene ist…sorry, aber hier passe ich. Wie soll man das beschreiben, ohne das Gefühl zu haben, es nicht richtig zu machen? Wir lesen Bücher, sehen Filme, in denen Fürcherliches passiert. Unsere Haut ist nicht so dünn, unser Verstand nicht so plump, unser Herz nicht so zerbrechlich, dass wir nicht vernünftig damit umgehen können. Es starben so viele, es sterben so viele, leiden, weinen, erfahren Unrecht. Grausames. Unfassbares.
Wir Freunde des Horror-Genres haben unsere eigene Sichtweise des Bösen. Das ist gut so, weil wir differenzieren können. Grundsätzlich immer. Aber diese eine Szene…lässt irgendwie alle enger zusammenrücken, die meinen, auf recht gesunde Art hartgesotten zu sein. Da gibt’s keinen „So-ist-das-Leben!“-Spruch, da gibt’s nur diesen einen dicken Kloß im Hals. Und der bleibt.
Etliche Jahre, nachdem meine drei Geschwister und ich gemeinsam für einen Rundflug in einer kleinen privaten Maschine gesessen und zum ersten Mal ein bisschen Welt von oben bestaunt hatten, erzählte unsere Mutter ihre eigene Geschichte. Sie sagte, sie hätte niemals wieder solch entsetzliche Bilder im Kopf gehabt wie an diesem Sommertag irgendwann in den 1970ern, während sie am Boden stand, in den Himmel blickte und sich vorstellte, das Flugzeug würde abstürzen. Mit ihren vier Kindern. Keins würde überleben. Keins ihr gelassen. Und sie hätte gedacht, dass, würde sie wählen können, nein, müssen, um wenigstens ein Kind behalten zu dürfen, dann wäre das eine Entscheidung gewesen, mit der sie selbst niemals hätte weiterleben können.
Unsere Mutter musste sich nie entscheiden. Natürlich nicht. Niemand hat das Ungeheuerliche gefragt. Und wer die Karten auf welche Art und aus welchem Grund mischt, wissen wir eh nicht. Aber trotzdem: Wie wäre tatsächlich unsere Antwort, wenn wir mit unserem Wort bestimmen könnten, wer leben darf und wer sterben muss?
Der SS-Arzt in Sophies Entscheidung, verantwortlich für die Selektion und damit Gönner, Richter und Henker in einer Person, stellt die Mutter exakt vor die Gewissensfrage, mit der er permanent konfrontiert ist. Damit zeigt er ihr ohne Not!, wie das ist. Umso verabscheungswürdiger, da er im Gegensatz zu ihr keine persönliche Beziehung zu den „Opfern“ hat. Sophie liebt beide Kinder gleich stark. Eines soll sterben. Wenn sie nicht augenblicklich wählt, gehen beide unweigerlich in den Tod.
Chance auf Glück? Niemals wieder!
Sophie wählt. Und setzt nach wenigen Jahren der Flucht ins Vergessen in einem schäbigen New Yorker Appartement einem Leben ein Ende, das ihr mit ihrer erzwungenen Entscheidung am Zug längst schon genommen worden war. Eine Chance auf ein Glück danach? Irgendwann? Niemals wieder. Sophie starb nicht in Auschwitz. In New York starb sie nur vom Datum her. Sie starb, als sie dem Wachmann ihre Tochter gab.
Sophies Entscheidung, 1982 von Alan J. Pakula nach dem gleichnamigen Roman von William Styron mit der großartigen Meryl Streep als Sophie verfilmt, ist ungeheuer sehenswert. Mitfühlenswert. Das haftet. Das lässt nicht los, ohne diese Beklemmung zurückzulassen: Was wäre…wie würdest du…was könnte man…? Und dann diese unweigerliche Vorstellung, tatsächlich in eine Situation zu geraten, in der dieser Alptraum sich realisiert. Was tun? Mich würde es wahnsinnig machen. Und niemals wieder wirklich wach werden lassen.
Der Horror, wählen zu müssen
In Der letzte Mohikaner (1992, Regie: Michael Mann) geht der britische Offizier Heyward auf den Scheiterhaufen der Huronen, damit zwei andere Menschen (Hawkeye und Cora) eine Chance für ihre Liebe erhalten. Brennen zur Vergeltung sollte die Frau, angeboten als „Ersatz“ für sie hatte sich auch Hawkeye. Heyward, selbst verliebt in Cora und dem Mohikaner-Rivalen keineswegs wohlgesonnen, opfert sich. Obgleich Heyward ohne Hawkey eventuell freie Bahn gehabt hätte, starb er für die Liebe und die Zukunft der beiden anderen. Das mag in großem Stil ehrbar und ungemein selbstlos sein, das würde ich aber nicht tun. Glaube ich. Weiß ich nicht. Will ich gar nicht wissen. Nie erleben.
Alles schlimm genug. Aber wenn dieser verbindliche Zwang fehlt?! Dieser Horror, eine Wahl treffen zu müssen, die tiefste Qual bedeutet? Weil eine solche Entscheidung den Weg in die Hölle freimacht. Auf ewig. Aber wir müssen ja nicht. Gottlob. Teufelsdank. Und irgendwie Amen.
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