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Ein seltsamer Job: Sündenfresser

Hunderte von Jahren lang engagierten trauernde Familien auf den Britischen Inseln Sündenesser, die die uneingestandenen Sünden ihrer Angehörigen „verzehrten“, indem sie eine Mahlzeit aßen, die sie auf die Brust des Toten legten. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert gab es bei Begräbnissen in Wales, England und Schottland manchmal einen ungewöhnlichen Gast. Ein mittelloser Fremder, ein sogenannter Sündenesser, kam, um mit der Familie zu trauern. Aber er tat mehr als das. Die Sündenesser kamen, um die Sünden des Verstorbenen zu fressen. Manchmal taten sie dies, indem sie Brot aßen, das auf die Brust oder das Gesicht des Toten gelegt wurde. In anderen Fällen aßen sie Speisen, die einfach über den toten Körper gehalten wurden.

In allen Fällen wurden die Sündenfresser für ihren Dienst so gut wie nicht bezahlt. Und obwohl sie die Sünden von den Toten „entfernten“ – und auf sich nahmen – wurden sie allgemein verachtet. Wer also waren diese Sündenfresser und was genau war ihre Aufgabe?

Die lange und makabre Tradition der Sündenfresser

Niemand weiß genau, wo und wie das Konzept der Sündenfresser entstanden ist. Möglicherweise geht er auf das Opfer Jesu Christi zurück, auf die jüdische Tradition, die Sünden auf eine Ziege zu legen, oder darauf, dass Adelige Brot an Arme verschenkten, um für einen verstorbenen Angehörigen zu beten. Unabhängig von seinen Ursprüngen verbreitete sich das Ritual des Sündenessens bereits im 17. Jahrhundert, Damals wurden die Sündenesser häufig zu ihrem seltsamen Dienst aufgefordert. Nach einem – oft unerwarteten – Todesfall wurden die Sündenesser in das Haus des Verstorbenen gerufen. Dort gab die Familie dem Sündenesser eine Münze und führte ihn zum Leichnam.

Schottisches Begräbnis
Schottisches Begräbnis im 19. Jahrhundert: The Print Collector/Print Collector/Getty Images

Während die Familie zusah, sammelte der Sündenesser die Speisen ein, die auf der Brust des Toten lagen. Man glaubte, dass die Speise, meist Brot oder Gebäck, die unbeichtig-gebliebenen Sünden des Verstorbenen aufsaugte. Auf einem Schemel sitzend, der Tür zugewandt, aß der Sündenfresser die Speise und nahm die Sünden in sich auf. „Ich gebe dir jetzt Erleichterung und Ruhe“, sagte der Sündenfresser. „Komm nicht mehr auf unsere Gassen und Wiesen. Und für deinen Frieden verpfände ich meine Seele. Amen.“ Danach jagte die Familie den Sündenfresser oft mit Stöcken aus dem Haus und beschimpfte ihn. Warum wurde jemand überhaupt zum Sündenfresser?

Wer waren die Sündenfresser?

Als die Reiseschriftstellerin Catherine Sinclair im 19. Jahrhundert die walisische Grafschaft Monmouthshire besuchte, bemerkte sie, dass bei vielen örtlichen Beerdigungen Sündenesser anwesend waren. Diese Männer“, schrieb sie 1838, „die einen so dreisten Betrug begingen, müssen allesamt Ungläubige gewesen sein, die offenbar wie Esau bereit waren, ihr Erstgeburtsrecht für einen Haufen Geld zu verkaufen. Wer waren sie also? Die meisten waren arm, Bettler oder Alkoholiker – Menschen, die für ein wenig Geld und eine Mahlzeit fast alles tun würden. Doch dafür wurden sie von der Gesellschaft geächtet. Die Sündenesser waren in der Nachbarschaft zutiefst verhasst, sie galten als Ausgestoßene, als unwiederbringlich Verlorene.

Britisches Begräbnis
Eine Darstellung eines britischen Begräbnisses um 1795.

Verarmt und mit der Last der Sünden anderer beschwert, waren sie gezwungen, allein zu leben. Die Dorfbewohner mieden es sogar, ihnen in die Augen zu sehen. Sündenesser mussten auch vorsichtig sein, denn ihre Arbeit wurde von der Kirche missbilligt. Doch nicht jeder passt in dieses Schema. Der so genannte „letzte“ Sündenesser, Richard Munslow, folgte der Tradition angeblich aus Kummer. Er war ein alteingesessener Farmer und begann mit dem Sündenessen, nachdem drei seiner Kinder gestorben waren. Als Munslow selbst 1906 starb, nahm er die Tradition des Sündenessens mit ins Grab.

Sündenfresser und Grabnahrung

Auch wenn der letzte Sündenfresser 1906 starb, zeigt die Praxis des Sündenessens etwas Faszinierendes an menschlichen Ritualen. Auch heute noch ist das Essen ein wichtiger Bestandteil der Trauerbewältigung. Es gibt Traditionen, die dem Sündenessen sehr ähnlich sind. In China zum Beispiel werden die restlichen Sünden oder Verfehlungen eines Verstorbenen manchmal rituell auf Nahrungsmittel übertragen, die dann von der Familie verzehrt werden. Und im frühen 20. Jahrhundert sollen Familien in Bayern einen „Leichenkuchen“ auf den Verstorbenen gelegt haben, der dann von den nächsten Verwandten verzehrt wurde.

Andere Kulturen haben das Essen auf subtilere Weise integriert. In Italien essen die Trauernden Kekse in Form von Knochen und Organen, die so genannten ossi di morti oder Knochen der Toten. In Deutschland endet eine Beerdigung oft mit einem Leichenschmaus. Meist wird dabei Zuckerkuchen gegessen. Alles in allem bleibt das Sündenessen eine faszinierende, merkwürdige und überraschend tiefgründige Tradition. Sie sagt viel darüber aus, wie Menschen mit dem Tod und dem Leben danach umgehen.

Im Jahr 2010 sammelten die Bürger von Ratlinghope unter der Leitung von Pfarrer Norman Morris tausend Pfund für die Restaurierung von Munslows Grab. Auch wenn der überholte Brauch des Sündenessens in Großbritannien wohl nie wieder aufleben wird, so ist er doch eine Erinnerung wert.


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