Ice Cream Man: Eiscreme, Wahnsinn und Verderben

„Ice Cream Man” ist eine laufende Horror-Anthologie-Reihe, die seit 2018 bei Image Comics erscheint. Geschrieben wird die Serie von W. Maxwell Prince, für die Zeichnungen ist Martín Morazzo verantwortlich und Chris O’Halloran ist für die Kolorierung zuständig.

Im Zentrum steht eine auf den ersten Blick harmlos wirkende Figur: ein fröhlicher Eisverkäufer namens Rick – der titelgebende „Ice Cream Man”. Doch Rick ist weit mehr als ein gewöhnlicher Verkäufer süßer Leckereien. Er ist ein übernatürliches Wesen, das wie ein Trickster, Dämon oder gar Gott agiert. In jeder Ausgabe begegnet er anderen Menschen in verschiedenen Kleinstädten Amerikas und bringt Chaos, Tod, Wahnsinn und metaphysischen Horror mit sich.

Image Comics

Jede Ausgabe erzählt eine in sich geschlossene Geschichte. Mal geht es um einen Jungen, dessen Eltern von seiner Spinne mumifiziert wurden. Ein anderes Mal um eine verlorene Kindheit, eine kaputte Ehe oder ein Leben, das durch Drogen, Einsamkeit oder Schuld zerbricht. Die Geschichten sind lose miteinander verbunden, vor allem durch den Ice Cream Man selbst und seinen mysteriösen Gegenspieler Caleb, der offenbar eine Art Ordnung in den Wahnsinn bringen will – eine Art Cowboy des Lichts.

Das Besondere an dieser Serie ist die Mischung aus klassischer Horror-Anthologie mit einer eigenen übergeordneten Mythologie. Jede Geschichte funktioniert zwar für sich, aber wer die Serie regelmäßig verfolgt, erkennt ein sich entfaltendes Universum, das sich langsam aber sicher offenbart.

Der Horror ist nicht immer blutig, sondern oft psychologisch, surreal und philosophisch – mit Anleihen aus der Literatur von Lovecraft, Shirley Jackson und David Lynch. Auch Einflüsse aus moderner Popkultur wie Creepshow, Black Mirror oder The Twilight Zone sind spürbar.

Martín Morazzo’s Zeichenstil erinnert an eine Mischung aus Frank Quitely (All-Star Superman) und Geoff Darrow (Hard Boiled) – klar, detailreich und oft grotesk. Morazzo gelingt es, alltägliche Szenen durch minimale Verschiebungen ins Unheimliche zu kippen. O’Hallorans Kolorierung verstärkt das: Die grellen, manchmal fast bonbonfarbenen Töne wirken wie Zuckerguss über einem fauligen Kern.

In einer Ausgabe sehen wir etwa eine komplett in Gedichtform erzählte Geschichte, in einer anderen wird die Struktur eines „Choose Your Own Adventure“-Hefts übernommen. Form und Inhalt sind immer wieder experimentell und brechen die vierte Wand, lassen Panels zerfließen oder manipulieren das Seitenlayout.

Ice Cream Man ist mehr als nur Horror – es ist eine düstere, oft zynische Bestandsaufnahme amerikanischer Gesellschaft. Die Serie beschäftigt sich mit Sucht und Isolation, Kindheitstraumata, psychischer Krankheit, dem Verlust von Identität, Technologie- und Medienkritik, Religiöser Symbolik und metaphysischer Leere. Der Horror wirkt deshalb so nachhaltig, weil er nicht einfach aus der Ecke springt, sondern tief in der Lebensrealität der Figuren verankert ist. Oft ist der Ice Cream Man nur ein Katalysator, der bereits vorhandene Risse sichtbar macht. Damit ist das hier keine Serie für schnelle Schocks, sondern ein subtiles, oft verstörendes Spiegelbild unserer Ängste, Verluste und inneren Dämonen – verpackt in kunstvoll komponierte Einzelgeschichten, die mal zum Weinen, mal zum Würgen, selten zum Lachen bringen. Wer Horror liebt, der sich mit existentialistischem Schrecken, literarischem Anspruch und formaler Kreativität verbindet, findet hier eine der stärksten und originellsten Comicreihen der letzten Jahre.

Empfehlung für Leser:

Fans von Black Mirror, Twin Peaks, Tales from the Crypt

Liebhaber*innen surrealer, psychologischer und literarisch anspruchsvoller Horror-Stories

Leser, die sich gerne auch auf visuelle Experimente einlassen

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