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Arsen mal ohne Spitzenhäubchen

Arsen und Spitzenhäubchen hätte es vielleicht ohne die Giftmörderin Amy Archer-Gilligan nie gegeben. Wie gut und wahrlich mehr als gut, dass Joseph Otto Kesselring ihre Geschichte kannte.

Keine schöne Geschichte. Vom Grundsatz her wenig witzig, da es die einer Serienkillerin ist. Ein bisschen schwarzhumorig freilich schon. Das bleibt aber (moralische?!) Ansichtssache. Allemal, Kesselring, freiberuflicher Autor und Bühnenschriftsteller (1902 – 1967), las über das böse, nicht mehr ganz so taufrische MädchenAmy und schrieb eine Komödie mit imposanter Sahnehaube. Giftspritzer als I-Tüpfelchen. Ein Theaterstück, das weltberühmt wurde: Arsen und Spitzenhäubchen, im Original Arsenic and Old Lace, uraufgeführt 1941 am Broadway und derart erfolgreich, dass der noch im selben Jahr von Frank Capra gedrehte gleichnamige Spielfilm mit einem phantastisch-köstlichen Cary Grant als Mortimer Brewster sozusagen verpflichtend erst 1944 in die Kinos kam. Ein begeisterter Kritiker dazu:

You wouldn’t believe homicidal mania could be such fun!“

Ganz weit weg vom Broadway

Was für ein grenzenloser Spaß! Zweifellos. Und Amy? Die war weit weg. 1944 saß die Inspiration des so herzig-witzig Makabren bereits seit zwanzig Jahren in der staatlichen Nervenheilanstalt in Middleton, Connecticut, wo sie 1962 starb. Mit zweiundneunzig. Insofern bescherten ihr Gott und Teufel wohl gleichsam noch ein langes Leben: Die so brav erscheinende, so treuherzig blickende Amy wurde nicht, wie grundsätzlich wohl irgendwie verdient, hingerichtet, sie verbrachte die Zeit bis zu ihrem Tode auch nicht hinter gestrengen Gittern, sondern fristete ihr (großes) restliches Dasein als „unheilbar Geisteskranke“.

Deutlich liebenswerter als Amy, aber ähnlich irre abgedreht sind Abby und Martha Brewster, Mortimers Tanten, die eine „a darling Lady in her sixties“, die andere „a sweeet elderly woman with Victorian charm“. Sie vergiften (insgesamt 12!) ältere einsame Herren, die sich als Untermieter bei ihnen vorstellen, mit ihrem Brombeerwein, tüchtig gemixt mit Arsen, um sie „Gott näher zu bringen“.

Dieser fromme Wille, zwar arg missinterpretiert, aber durchaus vorhanden, fehlte Amy Archer-Gilligan so gänzlich. In der Hauptsache vergiftete sie, um sich zu bereichern. Insofern sei die Anno-dazumal-Frage der New York Times, – Schlagzeile: „Whatever went wrong with Amy?“ – , auch simpel beantwortet: Geldgier war es, die der ansonsten so harmlos normal gestrickten Frau den falschen Weg wies. Den einer Serienkillerin.

Die Geschichte der Amy Archer-Gilligan liest sich bis zu ihrem einundvierzigsten Lebensjahr prinzipiell völlig unspektakulär: Sie wurde 1869 in Connecticut geboren, hatte neun Geschwister, heiratet mit dreiundzwanzig James Archer und brachte Tochter Mary zur Welt. 1901 zogen die Archers als Pflegekräfte im Haus des Witwers John Seymor ein, das dessen Erben nach seinem Tod 1904 zu einem Wohnheim für Senioren umfunktionierten. Die Archers durften bleiben, versprachen, sich zu kümmern, wurden dafür entlohnt und nannten das Haus zukünftig „Sister Amy’s Nursing Home for the Eldery“.

Sister Amy hatte freilich nie eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Großartig geprüft wurde das wohl nicht. Als 1907 das Haus verkauft wurde, zog Amy mit Mann und Tochter nach Windsor, Connecticut, und leitete dort ein eigenes Pflegeheim, das „Archer House“ für Alte und Gebrechliche. 1910 verstarb James, offiziell an Nierenversagen; einige Wochen vor seinem Tod war eine recht hohe Lebensversicherung auf ihn abgeschlossen worden. 1913 heiratete Amy den achtundfünfzigjährigen Heimbewohner Michael W. Gilligan, einen Witwer mit vier erwachsenen Söhnen, der ein knappes Jahr später starb, Diagnose Gallenkolik. Er hatte ihr alles vermacht.

Schwester Amy sah, tat’s und erbte

Im Mai 1914, also kurze Zeit später, brach Franklin R.Andrews, ein rüstiger, gesunder Mann von Anfang sechzig, urplötzlich zusammen und verschied, angeblich an einem geplatzten Magengeschwür. Dessen Schwester Nellie wurde misstrauisch, meldete die merkwürdigen Umstände, wie sie befand, der Polizei. Den Tag über hatte Andrews noch fleißig im Garten gearbeitet, sie kannte ihren Bruder auch nur fit und Beschwerdefrei.

Für Amy lief es nichtsdestotrotz noch ordentlich: Sie wurde in seinem Testament bedacht, wie auch in den Testamenten von neun Heimbewohnerinnen, die gleichsam weder sonderlich krank noch wirklich alt gewesen waren, die aber innerhalb kürzester Zeit nacheinander starben. Es wurde gemunkelt, Sister Amy habe die Leute beschwatzt, ihr Geld zu hinterlassen im Fall des, nun, irgendwann bevorstehenden Falles. Und es wurde direkt gesagt, dass da irgendwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zuginge. Arsen, das Amy reichlich deponiert hatte, war nach ihrem Bekunden für die Ratten gedacht. Eine Plage, wie sie meinte.

Sechzig (!) Todesfälle waren bereits seit Eröffnung des Archer-Hauses im Jahr 1907 zu vermelden, davon achtundvierzig in der Zeit von 1911 bis 1916. Die Skepsis wuchs, man schleuste von behördlicher Stelle heimlich einen Ermittler im Heim ein. Im Mai 1916 lautete die Schlagzeile in der auflagenstarken Tageszeitung Hartford Courant:

Police Believe Archer Home for Aged a Murder Factory.“

Das Archer-Haus eine Mordfabrik? Man ahnte, befürchtete, vermutete stark. Man benötigte Beweise. Sechs Leichen wurden exhumiert: Die von Michael Gilligan, James Archer, Franklin R. Andrews, Hilton Griffith, Alice Gowdy und Maud Lynch. In allen wurde Gift gefunden. Mehr Tote grub man nicht aus, warum auch immer, mag sein, man dachte, das genüge für die Überführung einer Serienmörderin. Immerhin standen noch fünfzehn weitere Personen auf der Liste, die überprüft hätten werden können. Das wurde nicht gemacht,und hier wurde wohl gefehlt:

Erheitert? Vielleicht besser nicht

Unfassbar irgendwie, aber tatsächlich nachweisen konnte man Amy Archer-Gilligan, 1917 angeklagt wegen sechsfachen Mordes, einzig den Mord an Andrews. Sie wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und kam in das Gefängnis in Wethersfield. Sechs Jahre blieb sie dort, immer wieder heimgesucht von „nervösen Anfällen“, wie es heißt, bis man ihr letztendlich eine Geisteskrankheit ohne Chance auf Heilung attestierte und sie 1924 nach Middleton in die „Irrenanstalt“ brachte. Dort verbrachte sie die restlichen achtunddreißig Jahre ihres Lebens.

Man darf die Phantasie schweifen lassen: Hat sie vom Broadway gehört? Von Kesselring, Capra, Cary Grant und den so allerliebst mordenden Brewster-Schwestern? Wer weiß, wie weit weg vom Weltlichen sie wirklich war. Vielleicht hat es ihr ja jemand erzählt. Und sie hat genickt. Gelächelt? War gar erheitert? Vielleicht doch besser nicht.


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