100 Jahre Hercule Poirot – Das fehlende Glied in der Kette

Mit zwei Milliarden Büchern, die in über 100 Sprachen übersetzt wurden, ist Agatha Christie die unangefochtene Königin des Kriminalromans, die weltweit meistverkaufte Romanautorin und die wohl erfolgreichste weibliche Bühnenautorin aller Zeiten. Im Oktober 2020 jährte sich die Veröffentlichung ihres ersten Romans “Das fehlende Glied in der Kette” zum 100ten Mal, und damit auch das Erscheinen des legendären Hercule Poirot, des kleine Mannes mit dem tadellos gepflegten Schnurrbart, der mit Hilfe seiner  „kleinen grauen Zellen“ jedes Verbrechen lösen konnte. 

Obwohl er möglicherweise nach Sherlock Holmes der zweitberühmteste Detektiv der britischen Kultur ist, ist Poirot gar kein Brite, sondern ein Flüchtling. Er kam als Teil einer Gruppe von Belgiern, die durch den Ersten Weltkrieg vertrieben worden waren, nach England, doch seine Wiege liegt in Brüssel. Indem sie über diesen pensionierten belgischen Polizisten schrieb, der Fälle in ganz Großbritannien und auf der ganzen Welt löste, konnte Christie die Komplexität des Englischen und seine Beziehung zu Kontinentaleuropa erforschen (und sich manchmal auch darüber lustig machen).

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Die Gärten des Mondes / Steven Erikson

Die Gärten des Mondes ist das erste Buch der Serie “Das Spiel der Götter”, die man lieben oder hassen wird (oder vielleicht aufgeben, bevor man das Ende des ersten Buches erreicht hat) ist nun also der Auftakt zum heiligen Gral des Fantasy-Genres.

Wer sich das Vorgespräch zur Entstehung und Form der Fantasy-Reihe noch nicht angehört hat, sollte das jetzt nachholen: “Das Spiel der Götter. Ein Vorgespräch“.

Die Serie besteht im Original aus zehn Büchern, aber Die Gärten des Mondes bereiten vermutlich am meisten Schwierigkeiten. Zwar ist es oft auch woanders so, dass man etwas Zeit benötigt, sich in Stil und Weltenbau zurechtzufinden, hier aber ist die sehr vielfältige und scheinbar endlose Besetzung von Charakteren für viele Leser bereits ein Grund, das Buch beiseite zu legen und die Serie nicht weiter zu verfolgen. Wir begegnen Magiern und Soldaten, Menschen und Nichtmenschen, Dämonenherren und sprechenden Raben, Göttern und Niemanden, Helden und Schurken, und all dem, was sich im grauen Raum dazwischen aufhält. Es gibt sehr viele sich überschneidende Handlungsstränge – riesige Kampagnen, Assassinenkriege, magische Schlachten, politische Manöver, verdeckte Missionen – und all das scheint anfänglich nicht sehr gut zusammenzupassen.

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Der Uhrmacher in der Filigree Street / Natasha Pulley

Auf Natasha Pulley wurde ich allein schon deshalb aufmerksam, weil die junge Dame in Oxford Literatur studierte und ich ein nicht geringes Faible für das einzigartige Milieu von Oxford und Cambridge hege, ob nun als fiktive Hintergrundkulisse wie in einigen berühmten Kriminalromanen oder falls sich Autoren aus dieser Kulisse erheben. Ein weiterer Grund für mich, genauer hinzuschauen, war das Setting des Romans: das viktorianische England, das auf mich stets wie ein zusätzlicher Magnet wirkt.

Natasha Pulleys Debüt „The Watchmaker of Filigree Street“ erschien bereits im Jahre 2015. Damit gewann die Autorin einen Betty Trask Award, der für Erstlingsromane von Autoren unter 35 Jahren vergeben wird, die in einem derzeitigen oder ehemaligen Commonwealth-Staat ansässig sind.

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Die stillen Gefährten / Laura Purcell

Laura Purcell ist eine neue Stimme unter den jungen Autorinnen, die sich gerade daran machen, der Gothic Novel wieder neuen Atem einzuhauchen. Man erfährt von dem gegenwärtige Geschehen im Augenblick noch nicht allzu viel, vielleicht gerade deshalb, weil sich die einschlägigen Medien der Sache noch gar nicht angenommen haben und es gibt auch noch keinen spezifischen Verlag, der einen Vorstoß wagt und die New Wave of Gothic Novel ausruft. Alles scheint noch etwas vage beäugt zu werden, aber nach und nach tauchen immer mehr Töchter Jane Austens auf, eine davon jüngst im Festa-Verlag.

Laura Purcell ist eine dieser Anhängerinnen Jane Austens. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass es jene gibt, die Jane Austen nur von den höflichen Komödienadaptionen im TV kennen, dadurch aber gerne ausblenden, dass es durchaus eine Seite an Austen gibt, die der Gothic Novel zugerechnet werden kann. Da scheint es fast schon selbstverständlich, dass moderne Autorinnen, die eine düstere Thematik bedienen, hier neben Daphne du Maurier ihren Markstein finden. Namentlich: Northhanger Abbey, das exemplarisch für die schiere Brandbreite der Schauerliteratur steht. Sie kann eine Satire mit Happy End sein, ein Abenteuer, das der Weird Fiction nahe steht, oder einfach nur Horror.

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Dissonanz und Horror

Humorvoll, das ist der einzig ehrliche Weg, um eine traurige Geschichte zu erzählen.“

―Jonathan Safran Foer

Je länger und aufmerksamer wir auf eine lustige Geschichte blicken, desto trauriger stimmt sie uns.“

―Nikolai Gogol

Vor einigen Jahren besuchte ich in Toronto einige Lesungen. Eine der interessantesten Phänomene, die ich dort beobachten konnte, war, dass immer dann, wenn jemand, der zu lesen begann, vorher erklärte, dass es sich dabei um eine Horrorgeschichte handelt, sich der Effekt unmittelbar zeigte: die Zuhörer gingen in die Abwehrhaltung, sie verschränkten ihre Arme, lehnten sich auf ihren Stühlen zurück, begannen die Stirn zu runzeln. Nun waren viele der Zuhörer selbst Autoren von Horrorgeschichten, also war das kein Zeichen von gänzlichem Missfallen gegenüber diesem Genre, wie man vielleicht vermuten könnte. Die Hörer schützten sich selbst. Ihre unmittelbare, einheitliche Reaktion war, sich emotional von der Geschichte zu distanzieren. Niemand von ihnen wollte sich fürchten.

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