Der verführerische Fremde in dunklen Gassen: H. P. Lovecrafts „Er“

Heute sehen wir uns die Story „ER“ etwas genauer an. Sie wurde im August 1925 geschrieben und im September 1926 im Weird Tales Magazine veröffentlicht.

„Statt der Gedichte, die ich mir erhofft hatte, kam nur schauderhafte Leere und unbeschreibliche Einsamkeit; letztendlich erkannte ich eine furchtbare Wahrheit, von der noch nie jemand gewagt hatte, sie auszusprechen – das nicht flüsterbare Geheimnis der Geheimnisse – die Tatsache, dass diese Stadt aus Stein und Atemrasseln keine empfindungsfähige Fortführung des alten New York ist, so wie London diejenige des alten London und Paris die des alten Paris, sondern dass sie in der Tat ganz tot ist, ihr weitläufiger Leichnam unvollkommen einbalsamiert und infiziert mit sonderbar belebten Dingen, die nichts mit ihm zu tun haben, wie er einst im Leben war. Nach dieser Entdeckung konnte ich nicht mehr ruhig schlafen.“ (Übers. Perkampus)

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Clark Ashton Smith: Die Stadt der singenden Flamme

Diese Geschichte, 1931 zum ersten Mal publiziert, drückt sich kunstvoll vor einer schließlichen Interpretation. Die möglichen Auslegungen erhöhen stattdessen das Fragenpotential gegenüber einer Natur, die von der menschlichen Fantasie herausgefordert wird. Die bedingungslose Ästhetik, psychologische und metaphysische Tiefen, die auf direktem Wege die Erfahrung stärkster Sehnsüchte zulässt, die hinter der Alltagsrealität liegt und die für gewöhnlich nur halb wahrgenommen werden können.

Dies nur mit dem Begriff einer transdimensionalen SF-Geschichte zu etikettieren würde Smiths besondere Sicht auf die Frage auslassen, die eine kreativ-nihilistischen Brücke schlägt zwischen verschiedenen Bereichen des geteilten Raums an einem gleichen Ort, getrennt nur durch unterschiedliche Quanten. Sphären also, die Raum miteinander teilen, sich gegenseitig aber nicht wahrnehmen. (Everetts Viele-Welten-Theorie kam erst in den 50er Jahren auf).

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Der kataleptische Traum / Michael Knoke (Goblin Press)

Der kataleptische Traum

Es gibt wenige moderne Werke, denen man im Untergrund das Zeug zum Klassiker unterstellen kann. Das hat noch nicht einmal etwas mit der Qualität der Geschichte zu tun, sondern vielmehr mit einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Freilich ist das Werk des viel zu früh von uns gegangenen Michael Knoke nicht gerade in aller Munde, was uns und mich aber nicht davon entbindet, darauf hinzuweisen, dass hier ein außergewöhnlicher Autor die Fähigkeit besaß, eine bizarre und beklemmende Atmosphäre zu erschaffen, wie sie heute kaum mehr irgendwo anzutreffen ist. Das allein wäre noch nicht „klassisch“ zu nennen. Michael Knoke bedient sich hier eine detailreichen Sprache, die nicht künstlich antiquiert zu sein versucht, aber auch nichts von diesem platten Stil, den heute viele schreiben und für modern halten, erkennen lässt.

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Krabat / Otfried Preußler

Wie viele der klassischen (und guten) Kinderbücher hat auch Krabat von Otfried Preußler das Potenzial, Leserinnen und Leser unterschiedlichen Alters anzusprechen.

Der in der Tschechoslowakei geborene Preußler war einer der beliebtesten und bekanntesten Kinderbuchautoren Deutschlands. Noch als Jugendlicher wurde er zur Armee eingezogen und musste nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fünf Jahre als Kriegsgefangener in der Sowjetisch- Tatarischen Republik überstehen. Danach wurde er Schullehrer, ein Beruf, dem er trotz seines Erfolges als Schriftsteller viele Jahre lang treu blieb. Sein Debüt im Jahre 1951, Das kleine Spiel vom Wettermachen, verkaufte sich weltweit 7,5 Millionen Mal. Seine Geschichten, die in 55 Sprachen übersetzt wurden, beschwören magische Welten herauf, die von übernatürlichen Wesen bevölkert sind; seine Lebensaufgabe, so erklärte er einmal, war es, Nahrung für die Fantasie zu liefern. Für Krabat zeichnete er die Volksmärchen nach, die er als Kind liebte, und gründete das Buch auf einer wendischen Legende. Aber es ist Preußlers eigene Erzählkunst und Atmosphäre, die diesen Bildungsroman, der auf gotischen Horror trifft, zeitlos und prächtig zu einem unheimlichen Original machen.

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Warum lesen wir Horrorliteratur

Als ich gefragt wurde, ob ich an einer Kolumne mitwirken wolle, dachte ich, dass ich wohl über kosmischen Horror schreiben würde – immerhin veröffentliche ich ein Lovecraft-Magazin (The Lovecraft eZine). Ich hatte den Artikel bereits fertig, als ich bemerkte, dass ich nicht bei der Sache gewesen bin. Ob nun besser oder schlechter: ich schrieb einfach auf, was mich wirklich beschäftigte.

Das ist nicht lustig, aber schließlich geht es hier um Horror. Mein Lexikon definiert das als „auf Erfahrung beruhender, schreckerfüllter Schauder, Abscheu, Widerwille.“

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Thomas Ligottis Tankstellen-Jahrmärkte (Gas Station Carnivals)

Ungewöhnlich innerhalb einer seiner Erzählungen zweimal lachen zu müssen. Das hatte ich nicht erwartet. Doch so erging es mir mit der Kurzgeschichte Tankstellen-Jahrmärkte (im Englischen: Gas Station Carnivals), die aus der Sammlung The Nightmare Factory (1996) stammt. Und so konnte ich mich recht schnell entscheiden, mit welcher phantastischen Schauderphantasie Ligottis ich hier zuerst ins Feld ziehen würde.

Prince of Dark Fantasy

Thomas Ligotti, der 1953 in Detroit, Michigan, USA, geboren wurde, gilt längst als Meister der „Dunklen Phantastik“ oder des „Pure Horror“. Mehrfach ausgezeichnet, ist es unmöglich, sein Werk einem einzelnen Genre zuzuweisen. Zu groß ist seine stilistische Bandbreite, zu artifiziell sein Schreiben, zu dräuend die Philosophie, die eine Psyche formt und hervorbringt, die seinen Erzählungen den Nährboden bereitet, was in dem 2010 erschienenem Sachbuch The Conspiracy Against the Human Race kulminierte.

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