Willkommen auf Musgrave Hall

Während Nationen weltweit gute Literatur zu schätzen wissen und sie in allen Erscheinungsformen konsumieren, gibt es in unseren Breitengraden leider noch immer eine erstaunliche Unkenntnis und Ignoranz gegenüber einem Medium, das weltweit einzigartig ist. Und es sind die Leser selbst, die sich immer etwas wegzuducken scheinen, wenn es um den Heftroman geht, so als würden sie akzeptieren, dass man ihre Leidenschaft als etwas minderwertig betrachtet wird. Und nicht nur das, selbst Autoren versuchen einer völlig veralteten Ansicht über Realitäten Rechnung zu tragen, in dem sie den Unglauben herausstellen oder der Unmöglichkeit des Plots Rechnung tragen. Das führt zu einer Verzerrung, die als „typisch deutsch“ betrachtet werden kann, so als wisse man um sein Laster und hoffe auf das Verständnis für diese angebliche Schwäche. Das ist die einfachste Art, die Herkunft des Textes zu erkennen. Internationale Autoren hingegen interessieren sich nicht für eine wie auch immer geartete deutsche Apologetik, die bei Lesern und Autoren gleichermaßen mitschwingt – sie schreiben, als wäre das, was sie erzählen, das normalste auf der Welt. Weiß man um diesen Aspekt, erkennt man leicht, warum gerade durch dieses merkwürdige Verhalten und Understatement die Prophezeiung eines „minderwertigen Mediums“ dann eben doch erfüllt wird. Man bleibt unter sich und von Selbstbewusstsein ist in den meisten Fällen nichts zu merken. Man muss allerdings auch anmerken, dass der Großteil dieser Heftchen tatsächlich unterirdisch geschrieben wurden – was freilich an der schieren Masse liegt -, aber es hat sich im Laufe der Jahrzehnte herausgestellt, dass viele der Autoren, die sich diesem Bereich widmen, vielen „Taschenbuchautoren“ überlegen sind, denn beides ist richtig: Autoren sind heute in vielen Bereichen besser als noch vor Jahren, während gerade gesellschaftlich anerkannte Unterhaltungsschriftsteller, die Bücher schreiben, merklich an Qualität verloren haben oder einfach nur langweilen.

Ziehen wir als Beispiel die Neuauflage des Gespenster-Krimis im Bastei-Verlag zur Rate, die am 23. Oktober 2018 startete und vielen alten Fans das wiederzugeben versucht, was sie bereits von 1973 bis 1985 begeisterte. Das Konzept besteht aus Nachdrucken alter Klassiker und aus neuen Geschichten, die vorher noch nicht erschienen sind. Neue Autoren scheitern aber sichtbar am Anspruch der alten Fans, was eine bestimmte Atmosphäre betrifft, die Erzähldichte und den Stil. Aber das ist bei Neuauflagen immer ein Balanceakt zwischen Bewahrung und Neuerfindung.

Morgan D. Crow und Musgrave Hall

Einer der neueren Autoren, die wahre Meister darin sind, eine spezifische Atmosphäre zu schaffen, die gleichzeitig gemütlich und spannend ist, ist Morgan D. Crow, der gleich mit seinen ersten Roman „Der Schrecken aus dem Meer“ (2022) ein Statement setzte, das niemandem entgehen konnte. Seine Geschichten spielen in England im Jahr 1926, und die Bände drehen sich um Musgrave Hall, Lady Eliza Fitzgibbon und ihren Freund Professor Harker. Was beim Lesen seiner Romane sofort auffällt ist die Sprachbeherrschung; Morgan transportiert seine Handlung zwar immer leichtfüßig, allerdings zeigt seine Wortwahl und sein Rhythmus ein erstaunliches Vermögen an poetischer Gabe, die niemals blümerant oder fehl am Platz wirkt. Es ist nicht selten, dass Autoren ihr Setting in der Vergangenheit aufbauen, aber man hat doch oft das Gefühl, dass sie sich nicht richtig in die Zeit hinein versetzen können oder sich grundsätzlich nur oberflächlich damit auseinandergesetzt haben. Das ist bei Crow nicht der Fall, selbst dann nicht, wenn er Professor Harker Erklärungen zu seinem Fachbereich – Aberglaube, Magie oder Archäologie – geben lässt. Das ist stets alles andere als Infodump und hat sogar mich, der ich ja gerade selbst in diesem Bereich arbeite, nicht selten mit der Zunge schnalzen lassen. Ungewöhnlich für das Medium ist auch die Tiefe und Lebendigkeit der Figuren. Natürlich hat ein Autor auf nur wenigen Seiten keinen Platz für definitive Figurenzeichnungen; die meisten müssen notgedrungen platt und oberflächlich bleiben, um den Fokus auf die Handlung zu legen. Aber Morgan braucht nicht viel, um wirklich jede Figur zum Leben zu erwecken. Das ist kein Trick, sondern die Liebe eines Autors zu seinen Figuren. Man kann sich leicht vorstellen, wie er sich selbst voller Neugier, wie es denn weitergeht, an die Tastatur begibt. Die besten Autoren lassen sich tatsächlich von ihren Figuren ihre Geschichte erzählen und versuchen nicht, alles selbst zu bestimmen.

Wer jetzt glaubt, dass Heftromanleser an eine gewisse Plakativität gewöhnt sind und die Feinheiten eines wirklich guten Autors gar nicht bemerken würden, der irrt auch hier. Zwar werden einige Morgan D. Crow einfach als einen der zahlreichen neuen Autoren sehen, die einen weiteren Versuch starten, ihr Ermittlerteam in den Ring zu schicken, aber die Reaktionen auf seine Musgrave-Romane sind für heutige Zeiten doch merklich positiv.

Interessant ist außerdem die Namensgebung, die Kennern bereits viel über die angesprochene Atmosphäre verraten kann. Da ist einmal natürlich Musgrave Hall, das einen direkten Verweis zu Musgrave Manor aus einer Sherlock Holmes-Geschichte darstellt, ein Herrenhaus, das seit vielen Jahrhunderten im Besitz der Familie Musgrave ist. Natürlich hat Lady Fitzgibbon von Musgrave nichts mit dieser Familie zu tun, deren Mann Henry vor Kurzem verstarb und nicht nur Elizas Ehemann war, sondern auch der Freund und Förderer von Professor Harker. Lady Fitzgibbon trägt hier den wundervollen Namen der normannischen Invasoren, die im 12. Jahrhundert nach Irland vorstießen.

Und Harker? Ist natürlich eine Referenz an Bram Stokers Jonathan Harker, der im Roman „Dracula“ ein Rechtsanwalt ist. Klingende Namen überall. Sieht man sich etwas im Netz um, hört man oft von einer Nähe zu den englischen Grafschaften einer Agatha Christie als grundsätzliches Setting, und obwohl ich das nicht bestätigen kann, ist doch klar, dass der Begriff Cozy Crime – also der „gemütliche Krimi“ durchaus der Vorsatz dieser „gemütlichen Gruselgeschichten“ sein kann. Wie die etwas schrullige Miss Marple ist auch Eliza Fitzgibbon eine etwas eigenwillige und sehr liebenswerte (wenn auch junge) Dame, die ein ausgesprochenes Faible für Schusswaffen hat. Auch ihr Butler Dillinger hat natürlich einen sprechenden Namen verpasst bekommen und wird als die definitive Figur eines loyalen englischen Butlers eingeführt, obwohl er witzigerweise deutscher Provenienz ist.

Die Referenzen enden aber keineswegs hier, man kann sich in jedem einzelnen Roman den Spaß erlauben, altehrwürdige Filme und Kriminalromane ausfindig zu machen, die wahrscheinlich in der Zeitfalte, die der Autor nutzt, zur Verfügung stehen. Und das ist ein Mehrwert, der natürlich nicht notwendig ist, um die großartigen Abenteuer zu genießen, aber wer sich dem Nerdtum verpflichtet fühlt, hat hier eine schöne zusätzliche Aufgabe vor sich, die zu einigen erstaunlichen Gimmicks führt.

Es bleibt mir nur die Aufforderung an alle, die möglicherweise – aus welchen irrationalen Gründen auch immer – Heftromane an sich meiden, sich hier persönlich zu überzeugen. Und zwar jetzt gleich.

Alles Musgrave-Romane inklusive einer Kurzgeschichte und einem Crossover mit der Reihe Professor Zamorra:

Gespenster-Krimi:

93 Der Schrecken aus dem Meer 03.05.2022
111: Die Bestie von Baldoon 10.01.2024
123 Der Dämon von Talamh 27.06.2023
131 Die Klauenhände von Milchester 14.10.2023
133 Der lange Mann 11.11.2023
145 Geister, die in Wänden lauern 27.04.2024
152 Die verlorenen Mädchen 03.08.2024
159 Der Kuss der bösen Fee 09.11.2024
162 Gespenstische Weihnacht 21.12.2024 (Kurzgeschichte)
181 Die Stunde der Hexen 13.09.2025

Professor Zamorra 1339 Im Schatten der Lamia 20. September 2025 (auch erschienen als Hörspiel).

2 Gedanken zu „Willkommen auf Musgrave Hall“

  1. Danke für diesen Artikel! Ich gebe dir völlig Recht, diese Geschichten sind eine Bereicherung nicht nur für den GK, wie wir Heftvernarrten diese Reihe gerne abkürzen, sondern für das Gruselromangenre überhaupt. Für mich spielt insbesondere die Sprache eine große Rolle, das hast du sehr schön und passend beschrieben. Eine Frage habe ich noch an dich. Wenn du schreibst, dass „neue Autoren sichtbar … scheitern“. Woran ist dieses Scheitern für dich ersichtlich? LG,

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    • Ich glaube, dass ich manchmal einen gewissen Zeitdruck spüren kann. Da purzeln Namen durcheinander oder es werden Sätze fast kopiert – oder es tauchen Phrasen immer wieder auf. Oft ist auch die Balance der Stories völlig im Ungleichgewicht. Denken wir an ein an sich gutes Setting, bei dem man sich fragt, wie der Autor das sinnvoll zu Ende bringen will. Meist ist es so, dass der ganze Aufbau auf den letzten Seiten dann kollabiert. Ich gebe zu, dass ich höchsten Respekt davor habe, eine Zeichenzahl einhalten zu müssen, aber manchmal ist man am Ende doch verärgert. Talent haben sie im Grunde alle, aber der Heftroman ist – ähnlich wie ein knappes Gedicht – eine echte Herausforderung, die manche meistern können und andere eher weniger. Bei Musgrave ist ein unglaublicher Flow da. Die Dialoge wirken natürlich, die Beschreibungen sitzen überall am richtigen Fleck, das Miteinander der Figuren ist stark und alles wirkt auf unheimliche Weise völlig durchdacht.

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