Horror-Kolumne

Warum lesen wir Horror?

Als ich gefragt wurde, ob ich an einer Kolumne mitwirken wolle, dachte ich, dass ich wohl über kosmischen Horror schreiben würde – immerhin veröffentliche ich ein Lovecraft-Magazin (The Lovecraft eZine). Ich hatte den Artikel bereits fertig, als ich bemerkte, dass ich nicht bei der Sache gewesen bin. Ob nun besser oder schlechter: ich schrieb einfach auf, was mich wirklich beschäftigte.

Das ist nicht lustig, aber schließlich geht es hier um Horror. Mein Lexikon definiert das als „auf Erfahrung beruhender, schreckerfüllter Schauder, Abscheu, Widerwille.“

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Das ist Horror:

Ich bin ein Kind, stehe in einer Reihe mit meinen Freunden. Der Junge, der ganz vorne in der Reihe steht, betritt einen Raum und schließt die Tür. Einige Augenblicke später hören wir, dass er geschlagen wird. Manchmal schreit der Junge, manchmal weint er.

Weinen ist besser. Sie mögen es nicht, wenn du schreist.

Die Schläge sind extrem schmerzhaft – ich weiß das, weil das schon öfter geschah, sehr oft. In der Reihe stehen, warten, bis ich dran bin. Das ist Folter. Ich versuchte, mich ganz hinten einzureihen, aber ich habe gelernt, dass es dann nur noch schlimmer wird.

Körperlicher Missbrauch. Geistiger Missbrauch. Emotionaler Missbrauch. Sexueller Missbrauch. Ich ertrug alles … jahrelang. Früher versuchte ich, ein gesprächiges Kind zu sein, aber ich sagte Dinge ohne nachzudenken, und das brachte mich in Schwierigkeiten, also wurde ich stoisch, stumm. Es gibt Tage, da gebe ich weniger als zehn Worte von mir.

Schlimmer als alles – zumindest für mich – ist die absolute Kontrolle, die sie über uns haben. Sie sagen uns, was wir zu tun haben und wann wir es tun sollen. Sie sagen uns, was wir zu sagen haben, wie wir uns kleiden sollen, was wir zu denken haben. Wir sehen kein TV und wir gehen nicht ins Kino. Es ist uns nicht erlaubt, Rad zu fahren oder Videospiele zu spielen.

So schlimm die anderen Dinge auch sind, diese unbedingte Herrschaft ist noch schlimmer.
Ich ertrug all das über viele Jahre hinweg … bis ich alt genug war, um zu gehen.

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Okay … worum geht es mir? Ganz einfach: Wenn ich so aufgewachsen bin, warum um alles in der Welt lese ich Horror? Warum habe ich mich dazu entschlossen, Horror zu veröffentlichen, herauszugeben und zu schreiben?

Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich die Antwort weiß. Aber da gibt es Dinge, die mir einfach einfallen, und vielleicht ist das, was für mich wahr ist, für andere ebenfalls wahr.

Möglicherweise ist ein Grund, warum ich Horror lese, der, dass ich mich dann weniger allein fühle. Diesen Leuten hatte man ebenfalls übel mitgespielt. Sie mussten schreckliche Dinge durchmachen. Klar, das sind erfundene Figuren … aber irgendwie hilft das trotzdem.

Aufgrund der Erlebnisse, die ich machen musste, fühle ich mich gebrochen, und in Horrorgeschichten finde ich kaputte Menschen wie mich. Das ist beruhigend.

Wie ich schon sagte, ich habe keine Antworten. Ich denke nur laut.

Es ist nicht leicht für mich, über solche intensiven persönlichen Belange zu sprechen. Aber im Licht dessen, wie ich aufgewachsen bin, stellte ich mir in letzter Zeit die Frage, warum ich Horror lese und warum ich das zu meinem Beruf gemacht habe.

Weitere Gedanken folgen …

In dem Film Vanilla Sky von 2001 sagt eine der Hauptfiguren zur anderen: „Das Süße ist nicht süß ohne das Bittere … und ich kenne das Bittere.“ Er meint damit, dass er ein hartes Leben gehabt hat, und wenn ihm jetzt positive Dinge widerfahren, weiß er sie mehr zu schätzen.

Vielleicht ist es so: Wenn ich Horror lese, dann denke ich an einer bestimmten Stelle – „Scheiße. Der Typ hatte ein schlimmeres Leben als ich. Es gibt noch eine Perspektive für dich, mein Freund!“

Vielleicht.

Und wenn jemand ein gutes Leben hatte, stellt der Horror einen Kontrast dar. Mieser Tag im Büro? Nun, zumindest sind keine Zombies hinter dir her. Im Rückstand mit deinen Rechnungen? Es könnte schlimmer sein: Die Welt könnte gerade untergehen. Vielleicht ist dein Leben doch nicht so schlecht, wenn man es so sieht.

Ein Kontrast. Das bekannte ‚Ich weinte, weil ich keine Schuhe hatte, bis ich einen Mann traf, der keine Füße hatte‘ – Denken.

Vielleicht, nur vielleicht, lesen du und ich gerne Horror, weil wir es kontrollieren können. Wenn es uns zu viel wird, klappen wir das Buch zu. Es ist nicht so wie im richtigen Leben, es kann uns nichts anhaben.

Immerhin gibt es im richtigen Leben schreckliche Dinge, die mindestens genauso übel sind wie alles, was man in Horrorgeschichten findet. Es gibt Tausende nuklearer Waffen auf der Welt. Zu jeder Zeit gibt es zwischen 45 und 50 Serienkiller in den Staaten. Über zwei Millionen Kinder sterben in einem Jahr an den Folgen des Hungers. Kinder.

Und es gibt noch mehr. Viel mehr. Wie wir alle wissen. Als einzelne Menschen können wir gegen diesen Terror nichts unternehmen, also versuchen wir, nicht drüber nachzudenken.

Manchmal ist eine gute Horrorgeschichte einfach nur unterhaltsam – und spannend. Wir genießen sie nicht, weil sie uns ängstigt, sondern weil sie uns vermittelt, dass es mehr Dinge im Leben gibt als wir an der Oberfläche erkennen können. Wenn du eine Gespenstergeschichte liest – selbst eine erschreckende – gibt es noch eine weitere Aussage, oder etwa nicht? Die Geschichte sagt uns, dass nach diesem Leben noch mehr kommt. Es gibt ein weiteres Abenteuer hinter dem Schleier. In der Geschichte, wohlgemerkt.

Es ist beruhigend, anzunehmen, dass es so ist. Und es ist das, was wir tun, wenn wir ein Buch lesen: wir tun so, als ob.

Vor kurzem veröffentlichte ich The Sea of Ash, von dem über alle Maßen talentierten Scott Thomas. Da gibt es einige wirklich erschreckende Momente in seinem Roman, das steht mal fest. Man kann sicher behaupten, dass es sich um eine Horrorgeschichte handelt. Zur gleichen Zeit aber, als ich sie las, fand ich die Hoffnung in mir, dass das Leben mehr zu bieten hat als das. Dass es mehr zu entdecken gibt, als das, was wir gegenwärtig verstehen. Dass da vielleicht hinter einer versteckten Tür, an der ich jeden Tag vorbeigehe, ein Geheimnis auf mich wartet. Oder hinter der nächsten Ecke eine andere Welt.

Wir sind Entdecker. Wir suchen stets nach mehr. Vielleicht ist das der Grund, warum wir Friedhöfe und Gruselgeschichten und Halloween so mögen; nicht, weil wir uns fürchten wollen, sondern, weil wir uns danach sehnen, unbekannte Bereiche zu entdecken.

Aber vielleicht täusche ich mich da auch nur. Ich kann nicht wissen, warum du Horror liest, ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, warum ich es tue. Als Stephen King gefragt wurde, warum er Horror schreibt, antwortete er (in einem meiner liebsten Vorworte überhaupt in Nachtschicht): „Warum gehen Sie davon aus, dass ich die Wahl habe?“

Eine Frage, die mich manchmal verfolgt, ist: Wo würde ich jetzt sein, wenn mir diese schrecklichen Dinge nicht passiert wären? Was würde ich dann jetzt machen? Alles hängt an der Entscheidung meiner Eltern, sich einem Kult anzuschließen, der Tausend Meilen entfernt war. Alles, was danach geschah, hing genau von dieser Entscheidung ab.

Würde ich sonst in diesem kleinen Verlag als Herausgeber und Verleger von Horrorliteratur arbeiten? Ist das der Grund, warum ich Horror lese? Ist diese Entscheidung die Garantie dafür, dass ich für immer von der Dunkelheit verfolgt werde?

Ich weiß es nicht und ich werde es wohl niemals wissen.

Also. Warum liest du Horror?

Mike Davis

Mike Davis

Vater, Ehemann, Herausgeber, Verleger, Podcaster, Leser. Chefkoch und Flaschenwäscher bei Lovecraft eZine.

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