
Anfang der 1980er Jahre tauchte in Belgien mit „Novedi“ ein neuer Verlag auf Er war bis 1990 nur ein knappes Jahrzehnt lang aktiv, bevor er Konkurs anmelden musste und sein Katalog hauptsächlich von Dargaud, Lombard und Dupuis übernommen wurde. Der Katalog umfasste unter anderem mehrere Bände der Serien von Jean-Michel Charlier, darunter „Leutnant Blueberry” und „Buck Danny”.
Und verloren inmitten dieses Katalogs finden sich die ersten beiden Alben einer faszinierenden Serie: Thanéros, gezeichnet von den Neulingen Eric Larnoy, Claude Carré und Denis Parent. Die Serie wurde von Dupuis übernommen, der einen dritten Band veröffentlichte, ohne jedoch die ersten beiden Bände neu aufzulegen. Wahrscheinlich hatte er vor, die gesamte Serie bei der Veröffentlichung des vierten und letzten Bandes dieser Serie noch einmal gemeinsam anzubieten. Doch der Sensenmann entschied anders, und der talentierte Zeichner Eric Larnoy wurde im Alter von 36 Jahren von Leberkrebs dahingerafft. Ende der Geschichte.
Nicht wirklich, denn die Serie war markant und originell genug, sodass es noch heute einen kleinen Kreis von Fans gibt, die darauf hoffen, dass der letzte Band eines Tages realisiert wird. Beinahe wäre sogar eine schöne Erfolgsgeschichte daraus geworden: Ein Zeichner namens Gloum, der ein großer Fan der Serie ist, berichtete in seinem Blog darüber und erklärte sich bereit, den hypothetischen letzten Band zu zeichnen. Die Autoren Carré und Parent kontaktierten ihn und beschlossen, mit ihm zusammenzuarbeiten, um den Zyklus endlich abzuschließen. Die Sache schien gut zu laufen: Gloum veröffentlichte sogar einige fertige Zeichnungen auf seinem Blog. Doch dann wurde alles wieder eingestellt, weil sich kein Verleger fand.

Die Fertigstellung von Thanéros bedeutet nämlich, dass die ersten drei Bände, die sich im Besitz von Dupuis befinden, neu aufgelegt werden müssen, da so ein vierter Band allein keinen Sinn macht. Da Dupuis offensichtlich nicht an der Zukunft der Serie interessiert ist, dürfte das Unternehmen eigentlich keine Einwände gegen die Aufhebung seines Eigentumsrechts haben. Dies ist also nicht das größte Hindernis. Das größte Problem ist die Neuauflage der ersten drei Bände. Ist es denkbar und überhaupt durchführbar, Band 4 einer Serie zu veröffentlichen, wenn die ersten drei Bände seit fast 20 Jahren nicht mehr erhältlich sind? Wie sollen die Kosten für eine Neuauflage getragen werden? Diese unmögliche Gleichung erschwert die Wiederaufnahme der Serie und stellt die Fertigstellung des letzten Bandes infrage. Die Autoren haben mehrere Möglichkeiten in Betracht gezogen, darunter Crowdfunding und die Veröffentlichung der ersten drei Bände nur in digitaler Form. Denis Parent hat sogar auf jede Form der Bezahlung für sich selbst verzichtet. Ihm ist es wichtiger, dass das Buch erscheint und Gloum für seine Arbeit gerecht entlohnt wird.
Und dennoch ist es frustrierend, dass diese Serie so viel Potenzial hatte und unvollendet bleibt, obwohl die Autoren den offensichtlichen Willen zeigen, sie zu beenden, da sie diesem Universum immer noch sehr verbunden sind.
Doch worum geht es bei Thanéros eigentlich und warum lohnt es sich, sich mit diesem Werk zu beschäftigen?
Der Ausgangspunkt der Handlung ist klassisch. Harold und Hanna werden in eine Parallelwelt geschleudert, aus der sie so schnell wie möglich fliehen wollen. Was Thanéros von vielen anderen Serien unterscheidet, ist sein ganz eigener Tonfall und die Art, wie die Welt erkundet wird. Man könnte sie als surrealistische Fantasy bezeichnen.

Konsequent beschreiben die Autoren ein Universum von erstaunlicher Tiefe, Kohärenz und Fülle. Dennoch bleibt die wahre Natur rätselhaft: Ist es die Hölle, das Fegefeuer oder eine verzerrte Realität? Diese Frage sollte der vierte und letzte Band klären.
Bis dahin enthüllt sich Thanéros auf natürliche Weise im Laufe der Seiten, jedoch nie auf Kosten des Hauptanliegens der Geschichte, der Suche von Harold und Hanna nach einem Ausweg. Alles ist hier eine Frage des Layouts, der geschickt eingefügten Elemente … Jede Wendung bringt die Leser dazu, mehr über diese Welt in Erfahrung zu erfahren, in der Grausamkeit und Zufall miteinander verwoben sind. Jede Figur erscheint wie ein Botschafter dieser Welt. In Thanéros sind Zugfahrten zum Beispiel kostenlos. Die Züge kommen nie an, wenn sie überhaupt abfahren. Dennoch ist der Preis, den man dafür zahlen muss, exorbitant hoch soll aber hier nicht verraten werden. Paradox? Nicht in der ganz besonderen Logik von Thanéros.
Auch die verwendete Sprache ist interessant. Im zweiten Band finden sich die Helden auf der Anklagebank eines wahnwitzigen Gerichts wieder, weil sie beim „Mitführen eines sichtbaren Kindes“ erwischt wurden. In dieser Welt ist jede Zurschaustellung der Jugend verboten (weshalb Kinder schon früh lernen, sich unsichtbar zu machen). Der Ankläger, der sein Gesicht hinter einer Tunika verbirgt, spricht nur das sepulkrale „… die Schuld… also der Tod”, während der Verteidiger, ein an Groucho Marx erinnernder Zwerg, ein endloses Plädoyer mit vielen Wendungen und Nebenbemerkungen hält. Dieser totale stilistische Gegensatz macht die Dualität von Thanéros deutlich.
Der Autor hat es geschafft, dass man nie das Gefühl hat, von zu vielen Ideen erschlagen zu werden, wie es bei manchen Büchern, in denen es um eine andere Welt geht, oft der Fall ist.

Wenn man sich die Etymologie von Thanéros ansieht, wird deutlich, dass Thanatos/Tod und Eros/Liebe gegensätzliche Begriffe sind. Der Tod und die Liebe … Das gesamte Universum von Thanéros scheint auf einer Logik der Opposition aufzubauen. Der Zufall konkurriert mit der Grausamkeit. Die Scrybes und die Majordome stehen sich gewaltsam gegenüber.
Die Welten der Erwachsenen und der Kinder befinden sich im Krieg.
Im dritten Band wird die Figur des Pelikans eingeführt. Er ist ein erleuchteter und selbsternannter Führer der Gosse, einer revolutionären Bewegung der Pubertierenden, die sich im bewaffneten Kampf gegen die Erwachsenen befindet. Dieser Avatar Stalins beginnt einen Marsch auf Thanéros, der an Maos Großen Marsch oder Mussolinis Marsch auf Rom erinnert. Ist es ein Zufall, dass die Autoren ein Paar am Rande des Zusammenbruchs gewählt haben, um die „Übergänger“ zu verkörpern – so werden die in Thanéros gestrandeten Ausländer genannt? Denis Parent, einer der Autoren, hat das einst bestätigt, mehr ist allerdings nicht bekannt

Doch reicht das aus, um zu erklären, warum Thanéros bei Kennern so erfolgreich ist? Der Witz der Nebenfiguren, die Qualität der Dialoge, die Wortspiele … All das ergibt wenig Sinn, wenn das Paar Harold und Hanna nicht auf der Höhe ihrer Zeit wären. In dieser Beziehung ist Hanna zweifellos das dominierende Element. Sie ist auch die Erzählerin dieser Geschichte. Ihre Stimme spukt durch die Seiten und lässt eine seltsame Nostalgie aufkommen. Harold bleibt ein eher unentzifferbarer Charakter. Sein Blick, der ständig hinter seiner Brille verborgen ist, wird erst am Ende von Band 3 sichtbar. Er scheint sich einfach fließen zu lassen und ist unbeeindruckt von dem Wahnsinn, der ihn umgibt. Bis dahin drückt er nie seine Gefühle aus. Doch im Laufe der Geschichte wird den Lesern klar, dass Harold, auch wenn er es selbst nicht zu wissen scheint, eng mit Thanéros verbunden ist. Auf welche Weise, bleibt allerdings ein Geheimnis.
Hanna ist diese Welt allerdings völlig fremd. Doch schon bald wird Thanéros sie auf unerwartete Weise einbeziehen, indem die Welt eine alte Wunde in ihr aufreißt. Es handelt sich im ein intimes Drama, eine Schuld, die an ihr nagt … Die Autoren enthüllen dies nach und nach und fügen ihrer Handlung eine zusätzliche Ebene hinzu. Dieser intime Einblick in einem bis dahin eher der Fantasy zuzuordnendes Genre sorgt für eine überraschende dramatische Intensität.
Derzeit scheint die Fortsetzung aufgegeben worden zu sein. Der dritte Band endete mit einer Tafel, die die Frage aufwirft, ob es weitergehen könnte. Seit 1994 hängt das Schicksal von Thanéros an diesem Fragezeichen, doch in der Splitter-Version fehlt es. Stattdessen wird auf das Ende in Band 4 hingewiesen.
