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Mary Shelleys Frankenstein: Der missverstandene Roman

Zwischen Mary Shelleys Originalroman Frankenstein von 1818 und den zahllosen Filmen, die davon inspiriert wurden, besteht ein himmelweiter Unterschied. Selbst Kenneth Branaghs Verfilmung von 1994 fügt Shelleys Originalvision viel hinzu und nimmt dabei einiges weg. Der Titel mag zwar Treue zum Original signalisieren, aber am Ende wird Shelleys Buch mit dem Beil bearbeitet, und es wird verzweifelt versucht, die verschiedenen Teile zu einem kohärenten und lebendigen Ganzen zusammenzufügen. Das Ergebnis ist, wenn schon nicht ein Monster, so doch zumindest ein monströses Durcheinander.

Außerdem wird das Buch immer wieder von Missverständnissen begleitet, wie die berühmte Verwechslung des Schöpfers mit der (namenlosen) Kreatur (so spricht man von „Frankenstein“ statt von Frankensteins Monster) oder der Glaube, der Schöpfer sei „Doktor Frankenstein“ (dem ist nicht so: im Buch ist er nur ein einfacher Student). Es ist ein berühmtes Buch, das jeder kennt oder zu kennen glaubt, aber vielleicht ist es das berühmteste Buch, das in Wirklichkeit gar nicht gelesen wird.

Shelley war noch ein Teenager, als sie 1816 mit dem Schreiben begann. Die Umstände der Entstehung sind gut bekannt: 1815 brach der Vulkan Mount Tambora in Indonesien aus und verursachte einen Rückgang der globalen Durchschnittstemperatur um etwa 0,5 Grad Celsius. Dies führte zu einem Ausfall vieler Ernten. 1816 war das „Jahr ohne Sommer“ (Byron dokumentierte dieses Ereignis in seinem Gedicht „Darkness“). Shelley und ihr Mann, der Dichter Percy Bysshe, fuhren an den Genfer See, zusammen mit keinem Geringeren als Byron und einem jungen Mann namens John Polidori. Um sich die Zeit zu vertreiben, veranstalteten die vier einen Wettbewerb, bei dem es darum ging, wer sich die beste Geistergeschichte ausdenken konnte. Aus dieser Veranstaltung ging mit Frankenstein nicht nur der wohl erste Science-Fiction-Roman hervor, sondern auch der erste Vampirroman (Polidoris „Der Vampyr“, der 1819 – ein Jahr nach Frankenstein erschien).

Aber worum geht es bei Frankenstein wirklich? Der Roman wird oft als moralische Fabel über die Gefahren des Gott-Spielens zitiert, Frankenstein als eine Art Prometheus-Figur, der in der griechischen Mythologie den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen gab (der Untertitel des Romans lautet in der Tat „Der moderne Prometheus“). Dies ist zweifellos ein Teil der Botschaft des Romans, aber es bedurfte eines Wissenschaftlers, um das Science-Fiction-Element der Geschichte zu entfernen und ihr Hauptthema zu verdeutlichen. Es war Stephen Jay Gould (1941-2002), der Paläontologe und Evolutionsbiologe, der einen Artikel über Frankenstein schrieb. Gould schrieb dort, dass es in dem Roman nicht wirklich um die Gefahren geht, Gott zu spielen, indem man menschliches Leben erschafft, denn das ist es nicht, was die Kreatur zu einem Monster werden lässt. Es ist Frankensteins spätere Ablehnung der von ihm geschaffenen Kreatur, die zu deren gewalttätigem und zerstörerischem Verhalten führt. Wie Gould es ausdrückt: Die Sünde von Victor [Frankenstein] liegt nicht im Missbrauch der Technik oder in der Hybris, Gott nachzueifern; diese Themen finden wir in Mary Shelleys Erzählung nicht. Victor scheiterte, weil er einer Veranlagung der menschlichen Natur folgte – dem physischen Ekel vor dem Aussehen des Monsters – und nicht die Pflicht eines jeden Schöpfers oder Elternteils übernahm: sein eigenes Schützling zu lehren und andere zur Akzeptanz zu erziehen“. In dem Roman geht es also nicht um schlechte Wissenschaft, sondern um schlechte Erziehung.


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